„Digitalisierung in der Sozialen Arbeit braucht ein Reframing“

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„Digitalisierung in der Sozialen Arbeit braucht ein Reframing“

Die Frage lautet längst nicht mehr, ob wir Onlineberatung in der Sozialen Arbeit überhaupt brauchen, sondern wie sich die Beratung durch digitale Hilfsmittel und neue Formen der Gesprächsführung an das Onlinesetting anpassen kann, findet Andreas Jarek. Er ist Fallmanager im Jobcenter Göppingen und studiert nebenberuflich „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ am Center for Advanced Studies der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.

double_arrowWie hat sich die Beratungsarbeit im Jobcenter durch die Digitalisierung verändert?

Wir bieten unseren Klient*innen seit einiger Zeit eine Videoberatung an und haben das Gefühl, dass sie gut angenommen wird, auch wenn es in absoluten Zahlen immer noch einen sehr kleinen Teil der Beratungen betrifft. Im Videosetting ändern sich sowohl die Gesprächsführung als auch die Inhalte und die eingesetzten Hilfsmittel.

Ein Beispiel: Bei klassischen Methoden wie der sogenannten „Motivierenden Gesprächsführung“ geht es darum, aktiv und einfühlsam zuzuhören. Wenn ich bemerke, dass ein*e Klient*in sich unwohl fühlt, würde ich das spiegeln: „Ich merke, es geht Ihnen heute nicht so gut.“ Dadurch würde ich die Person anregen, mehr über ihr Befinden zu erzählen – aber auch nur soviel, wie sie möchte.

In der Onlineberatung kann ich aber Mimik und Gestik nicht so gut erkennen und mir fehlen diese Anhaltspunkte, um die „Motivierende Gesprächsführung“ anzuwenden. Eine Frage im Rahmen der Digitalisierung lautet also: Welche Fragetechniken kann ich nutzen, um die Informationen anderweitig zu bekommen? Ich könnte mir z.B. angewöhnen, zu Beginn des Gespräches zu fragen: „Wie fühlen Sie sich heute auf einer Skala von 1 bis 10?“

Ein anderes Beispiel: die Visualisierung. Wenn jemand viele „Baustellen“ hat und nicht weiß, wo er oder sie anfangen soll, hilft es oft, auf einem Blatt Papier ein Netzwerk mit Kompetenzen und Unterstützungsmöglichkeiten aufzuzeichnen, die es im privaten Umfeld gibt. Oder eine sogenannte „Ampeltorte“, die Aufgaben in sofort zu erledigende und unwichtigere unterteilt. Wie lässt sich die Visualisierung nun digital umsetzen? Male ich weiter auf einem Blatt Papier und halte es dann in die Kamera? Oder gibt es Apps, mit denen ich direkt am Bildschirm skizzieren kann? Das sind die Fragen der Anwendung, die sich Sozialarbeiter*innen heute stellen müssen.

double_arrowInwiefern ändern sich die Beratungsinhalte?

Eine Kollegin berichtete mir von einer Klientin in der Videoberatung, die ihren Bildschirm teilte, um meiner Kollegin zu zeigen, wie die digitale Lernplattform ihrer Ausbildungsstätte aussah, auf der sie gerade unterwegs war. Meine Kollegin empfand das als sehr positiv, dass sie einen direkten Einblick in die Abläufe der Ausbildung bekam und in der weiteren Beratung direkt darauf eingehen konnte.

Ich selbst hatte schon häufiger Klient*innen in der Beratung, die YouTube- oder Twitch-Streamer*innen werden wollen. Es ist meine Aufgabe, die Klient*innen den Weg vorgeben zu lassen und ihn so weit wie möglich mitzugehen. Aber auch, ihnen zu erklären, dass es bei der Grundsicherung darum geht, die Hilfebedürftigkeit so schnell wie möglich zu verringern. Beratung in Zeiten der Digitalisierung sieht also so aus, dass ich mir auf dem Smartphone zeigen lasse, wie sie ihre Videos bearbeiten und was sie auf ihren Kanälen veröffentlichen, um sie mit ihren Ideen ernst zu nehmen. Bevor ich dann darauf zu sprechen komme, dass nicht jeder YouTuber seinen Lebensunterhalt mit dem Streamen verdienen kann und dass wir über Alternativen nachdenken sollten. Erst neulich musste ich einem Klienten nach drei Sitzungen, in denen es um seinen Traum von der Twitch-Karriere ging, sagen, dass er erstmal eine geregelte Tagesstruktur in seinem Leben braucht, um dann zu überlegen, ob eine Karriere als Streamer überhaupt zu ihm passt.  

double_arrowEin Thema der Onlineberatung ist auch der Anspruch der ständigen Erreichbarkeit. Wie wäre es mit deutschen Sozialarbeiter*innen in Australien, die Videoberatung machen, wenn die hiesigen Beratungsstellen nachts geschlossen haben?

Interessante Idee, warum nicht!? Schließlich wünschen sich Sozialarbeiter*innen der Generation Z oft auch die Vorteile anderer Berufsgruppen wie Home Office und Mobiles Arbeiten. Und in der Sozialen Arbeit geht es längst nicht mehr um Öffnungszeiten von Gebäuden, sondern um die Überbrückung von Schließzeiten z.B. durch ChatBots und Natural Language Processing. Erste Informationen könnten bereits verschickt und Termine vereinbart werden, bevor wieder jemand zur persönlichen Beratung zur Verfügung steht.

Das Persönliche, Menschliche darf allerdings nicht verloren gehen. Die Gefahr von Fehleinschätzungen und Fehldiagnosen durch Künstliche Intelligenz ist real. Spontane Videoberatung ist gut, wenn der Unterstützungsbedarf in einer akuten Situation besonders groß ist, aber es kommt auch auf das Handlungsfeld an. Im behördlichen Kontext ist es gar nicht wichtig, dass die Berater*innen am selben Ort wie die Klient*innen sind, aber in der Wohnungslosenhilfe wäre es schwierig, wenn es nicht so wäre. Das müsste man in der Praxis erproben.

double_arrowFinden überhaupt alle Klient*innen die Onlineberatung gut?

Es gibt auch die Sorge mancher Klient*innen, dass ich in ihre Privatsphäre eingreife, indem ich z.B. in der Videokonferenz ihre Wohnung im Hintergrund sehe. Sie möchten gar keine Onlineberatung. In diesen Fällen geht es dann darum, sie in digitalen Kompetenzen zu schulen und ihnen zu zeigen, wie sie z.B. einen Filter setzen können, sodass der Bildhintergrund verschwimmt.

Auch wenn z.B. technische Probleme während der Videoberatung auftauchen, der Ton plötzlich weg ist oder das Bild stockt, kann man sich das zunutze machen, um an den digitalen Kompetenzen der Klient*innen zu arbeiten. Man könnte fragen: „Was würden Sie machen, wenn so etwas im Onlinevorstellungsgespräch mit einem Arbeitgeber passiert?“ Viele wären in der Situation völlig hilflos – sie haben ja schon Angst vor dem Beratungsgespräch im Jobcenter. Es ist also gut, mit ihnen den Umgang mit stressbehafteten Situationen zu üben, sodass sie lernen, selbstbewusst damit umzugehen und im Vorstellungsgespräch zu sagen: „Bei mir hängt das Bild gerade, geht es Ihnen genauso?“

double_arrowWas haben Sie aus Ihrem Studium für Ihren Arbeitsalltag mitnehmen können?

Im Studium habe ich gelernt, den sehr abstrakten Begriff der Digitalisierung besser zu sortieren und zu verstehen, welche Aspekte dazugehören: z.B. die Digitalisierung der Lebenswelten unserer Klient*innen, die Hardware und Software, die wir in der Sozialen Arbeit einsetzen können, und die Entwicklung von Strategien. Im Jobcenter Göppingen beschäftigen wir uns aktuell mit der Frage, wie eine Digitalisierungsstrategie aussehen könnte. Die Methoden aus dem Studium haben mir geholfen, konkreter zu werden. Wir fragen nun: Was sind unsere digitalen Ziele? Und wie kommen wir dahin?

Außerdem habe ich viele Methoden kennengelernt, die ich auch auf der Arbeit einsetzen kann. So haben wir Erklärvideos produziert:

Solche Erklärvideos ließen sich sicher auch einsetzen, um Klient*innen kompakte Informationen zu bestimmten Themen zu vermitteln.

Neue Methoden wie ein Projekt-Canvas, mit dem man ein Projekt mit all seinen Zielen, Meilensteinen, Maßnahmen und Nutzen übersichtlich und anschaulich darstellen kann, helfen uns auch in der Behörde, mit der Digitalisierung voranzukommen. Meine Lieblingsübung ist die, bei der man eine Fragestellung in drei Unteraspekte untergliedert und jeden Unterpunkt nochmals in drei Details, so lange, bis man bei den echten Grundsatzfragen angekommen ist.

Wir möchten im Jobcenter z.B. ein digitales Lernzimmer einrichten. Wichtige Aspekte, über die wir nachdenken sollten, sind die Fragen: Wie ist das Lernzimmer organisiert (kann man es nur direkt vor Ort nutzen oder sich auch online zuschalten, wie kommt man in Kontakt mit einer Ansprechperson)? Was soll das Lernzimmer alles können (z.B. man soll dort Bewerbungsunterlagen erstellen können, unsere Onlineplattformen ausprobieren können, etc.)? Jeden dieser Punkte kann man wiederum herunterbrechen: Welche Technik und welches Material brauchen die Klient*innen, um eine Bewerbung zu erstellen? Sollen sie sie ausdrucken oder digital abspeichern und wenn ja wo? Welche konkrete Unterstützung benötigen sie dabei?

double_arrowWas ist für Sie das wichtigste Learning zur Digitalisierung in der Sozialen Arbeit?

Ich glaube, Digitalisierung in der Sozialen Arbeit braucht ein Reframing, sie muss noch einmal ganz neu interpretiert werden. Wir müssen weg von den immer gleichen skeptischen Reaktionen und hin zu neuen, positiven Fragestellungen, die uns von den Befürchtungen ablenken und den Blick für die Chancen und Vorteile öffnen. Wir sollten uns nicht mehr fragen, ob wir Onlineberatung brauchen, sondern wie wir als Sozialarbeiter*innen unser eigenes professionelles Handeln im digitalen Bereich stärken können. Welche Methoden kenne ich, welche Technik nutze ich? Wie kann die Wissenschaft neue Ansätze eröffnen, um Digitalisierung voranzutreiben?

Man kann digital genauso professionell arbeiten wie vorher, da fällt nichts weg. Dabei können wir unsere Unsicherheit gerne auch zum Thema machen. Beginnen wir eine Onlineberatungssession doch einfach mit den Worten: „Mensch, wir sehen uns jetzt gerade online, wie ist das für Sie? Für mich ist das ganz schön ungewohnt…“ Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade bei mir im Fallmanagement die Problemlagen recht groß sind und es in der Zusammenarbeit mit den Klient*innen sowieso nur um Minischritte gehen kann. Unser Auftrag ist die Integration der Klient*innen in den Arbeitsmarkt, aber bevor wir dahinkommen, ist viel Vorarbeit zu leisten. Wenn sich die Stimmung im Gespräch durch eine gemeinsame Unsicherheit oder das gemeinsame Gehen von ersten Schritten in der digitalen Welt aufhellen lässt, kann das das Machtgefälle und Spannungsfeld zwischen Berater*in und Klient*in positiv beeinflussen.

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2023

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