„Eine Software einzuführen, ist nicht für jedes Problem die Lösung“

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„Eine Software einzuführen, ist nicht für jedes Problem die Lösung“

Der Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft e.V. (vediso) beschäftigt sich in einem neuen Forschungsprojekt mit der Frage, wie sozialwirtschaftliche Unternehmen und Organisationen Kompetenzen und Strukturen entwickeln können, um zu erkennen, wann Digitalisierung die Antwort auf eine neue Herausforderung ist. Denn häufig wird unüberlegt nach einer neuen Software gerufen, findet Vorständin Sarah Theune.

double_arrowWie kam es zu dem neuen Forschungsprojekt?

Eine Kernfrage im unserem Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft lautet: „Was brauchen unsere Mitglieder, damit sie perspektivisch gut in der Lage sind, Antworten auf die neuen Herausforderungen der modernen Arbeitswelt zu finden?“ Mit Sorge haben wir beobachtet, dass die Antwort oft vorschnell lautet, die Lösung sei „Digitalisierung“. Aber die Welt ist etwas komplizierter als das. Bevor ich eine neue Software einführe – vor allem wenn ich wie in der Sozialwirtschaft ressourcenschonend denken muss -, muss ich erstmal verstehen, wo das Problem genau liegt und ob eine Software es überhaupt lösen kann. Oft ist die Antwort: nein. Das Problem liegt viel tiefer und Digitalisierung ist nur ein Teil der Lösung.

double_arrowKönnen Sie ein konkretes Beispiel nennen?

In einer Arbeitsgruppe haben wir die Frage gestellt, welche Problemstellungen die teilnehmenden Unternehmen beabsichtigten, mit Mitteln der Digitalisierung zu lösen. Eine Organisation beschrieb das Problem, dass sie viele Projekte laufen habe, die aus Fördermitteln oder komplizierten Sondertöpfen z.B. der Kommunen finanziert würden. Überall hingen Berichts- und Abrechnungspflichten dran und es gelänge nicht, sich abzustimmen und voneinander zu lernen. Dadurch würden Fristen nicht eingehalten, Gelder gingen verloren. Der Rückschluss lautete: „Wir brauchen eine Software, um das Projektcontrolling abzubilden.“ 

Doch je tiefer wir in der Beratung eingestiegen sind und mit verschiedenen Methoden die Prozesse analysiert haben, kam heraus, dass überhaupt nicht geklärt ist, wer welche Aufgabe, welche Verantwortung hat. Wer muss mit wem Informationen austauschen? Wer braucht welches Signal, um welchen nächsten Arbeitsschritt durchzuführen? Bevor das nicht klar ist, kann man gar keine Software mit einem zielführenden Rollen- und Rechtekonzept bestücken.

In anderen Beispielen kam heraus, dass ein Missstand sich durch ein Beziehungsproblem zwischen zwei Abteilungen erklären ließ. Auch so etwas wird eine Software nicht ausbügeln.

double_arrowWie will Ihr Verband seine Mitglieder an eine bessere Herangehensweise heranführen?

Für unser aktuelles Forschungsprojekt haben wir uns drei Mitgliedsorganisationen gesucht, die das Thema im Projektverbund mit uns bearbeiten werden:

  • Im ersten Projekt geht es darum, eine Partizipationsplattform zu etablieren. Die Mitarbeitenden des Unternehmens sollen motiviert werden, Herausforderungen zu beschreiben und Lösungsideen beizusteuern.
  • Im zweiten Projekt möchte ein Unternehmen der stationären Altenhilfe selbstorganisierte Teams etablieren. Wie diese Organisationsinnovation auch unter den Bedingungen der neuen Personalbemessungsregeln gelingen kann, werden wir begleiten und auswerten.
  • Im dritten Projekt möchte eine Organisation herausfinden, warum es in der Vergangenheit oft nicht gelungen ist, innovative Lösungen, die in Projektstrukturen ausprobiert wurden, nachhaltig in die Fläche zu bringen. Wie können alle davon profitieren und wie kann es nach der Projektlaufzeit weitergehen?

Bei der Auswahl der Projekte war uns eine örtliche Streuung wichtig – so haben wir nun ein Projekt vom Bodensee, eins aus dem Rhein-Neckar-Raum und eins aus Niedersachsen dabei. Eine Einrichtung der Caritas und zwei Einrichtungen der Diakonie spiegeln das konfessionelle Spektrum wieder. Und dann war uns wichtig, Projekte zu finden, die an unterschiedlichen Stellen im Innovationszyklus einzuordnen sind. Das Projekt zur Problembeschreibung und Ideenfindung befindet sich am Anfang des Zyklus, bei der Neustrukturierung der Teamarbeit geht es um Unternehmensstrukturen und Arbeitsalltag – wir befinden uns also mittendrin -, und die Nachhaltigkeit und Ergebnissicherung von Projekten ist am Ende des Prozesses angesiedelt. 

double_arrowWas soll das Ergebnis Ihres Forschungsprojektes sein?

Ein Ziel ist es, uns selbst als Verband weiterzuqualifizieren. Denn wir haben viel Erfahrung in der Beratung zu Digitalisierungsstrategien, aber weniger Erfahrung im Bereich der Innovation. Für unsere Mitglieder wollen wir außerdem Handlungsempfehlungen zusammenstellen. Darin wollen wir Indikatoren beschreiben, die einen bei der Bewertung von Digitalisierungsvorhaben aufhorchen lassen sollten. Wir wollen neue Methoden oder Kombinationen von Methoden z.B. aus den Bereichen User Centered Design und Design Thinking vorschlagen, mit denen Digitalisierungsprojekte hinterfragt und adäquate Lösungen erarbeitet werden können.

double_arrowKönnte die Hilflosigkeit der Sozialunternehmen darin begründet sein, dass Digitalisierungsprojekte immer komplexer werden?

Wir sind an einem Punkt, an dem viele grundständige Verwaltungs- und Administrationsprozesse aus den Bereichen Finanzbuchhaltung, Dokumentation oder Personalverwaltung bereits digitalisiert sind. Jetzt geht es an die wesentlich komplexere Fragestellung der digitalen Teilhabe. Wie können wir Leistungen für Klient*innen mit Unterstützungsbedarf digital anbieten? Welche Unterstützung brauchen diese Klient*innen, um ihre digitalen Kompetenzen selbst weiterzuentwickeln? 

Auch befinden wir uns inzwischen in einem sehr komplexen technologischen Umfeld. Jede neue Software wird nicht mehr auf der grünen Wiese eingeführt, sondern muss sich in bestehende Lösungen integrieren. Nischenlösungen fehlt die Kompatibilität für den Datenaustausch mit Primärsystemen. Softwarelandschaften haben das Problem von Medienbrüchen und nicht vorhandenen API-Schnittstellen. Zunehmend gerät die Nutzerorientierung in den Fokus. Wir wollen also nicht nur irgendwelche digitalen Lösungen anbieten, sondern bedarfsorientierte.

Letztendlich müssen wir vom chaotischen Klein-Klein innerhalb der nächsten zehn Jahre in eine Standardisierung kommen. Dem Kostendruck wird mit Kooperationen und Netzwerkarbeit zu begegnen sein.

double_arrowWelche weiteren Trends sehen Sie für die nächsten Jahre?

Auch der Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft beschäftigt sich mit dem Thema Künstliche Intelligenz, z.B. in den Projekten prokip.care und pulsnetz MuTiG. Wie kann maschinelles Lernen in der Pflege eingesetzt werden? Genau wie bei der Einführung der ersten Softwarelösungen beginnen die Überlegungen bei der Optimierung von administrativen Prozessen. Kann z.B. eine systematische Datenanalyse mir helfen, die Lebensmittelmengen in der Großküche besser zu berechnen, Abfall zu vermeiden und dadurch Kosten zu sparen? Dann geht es mit dem Leistungserbringungsprozess weiter: Wie kann KI dort helfen? Doch bevor wir diese Fragen überhaupt angehen können, sind erstmal einige Grundsatzfragen zu klären: Wo kommen die Daten her, mit denen wir die KI füttern, damit sie überhaupt Prognosen abgeben kann? Welche Qualität haben die Daten? 

Der Datenschutz ist dabei nicht einmal das größte Problem, denn es gibt Methoden, um Daten zu anonymisieren und zu synthetisieren und dann auch zu teilen. Nur sind Sozial- und Gesundheitsunternehmen darin nicht besonders bewandert. Es fällt ihnen schwer, Daten in einer Form und Größenordnung zusammenzuführen, die aber erreicht werden muss, damit der Algorithmus überhaupt sinnvoll arbeiten kann. Den Datenaustausch mit den Krankenkassen und der Sozialversicherung haben wir inzwischen raus, aber im Bereich KI fehlt uns noch die Übung. Bevor soziale Unternehmen und Organisationen Klient*innendaten aus der Hand geben, mit allen Bedingungen und Risiken, die damit einhergehen, ist es einfacher zu sagen: „Wir lassen aus Datenschutzgründen lieber die Finger davon. Dann sind wir eben nicht die ersten.“ 

Trotzdem: Wenn alles gut läuft, können wir in den nächsten zehn Jahren eine erste Entlastung durch KI-gesteuerte Prozesse beobachten. Ich wage nicht zu hoffen, dass die Arbeitsverdichtung nachlassen wird. Es wäre schon ein Erfolg, wenn sie nicht noch weiter zunehmen würde und wir die Versorgungssicherheit trotz wachsender Pflegebedürftigkeit und Personalmangel garantieren könnten.

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2023

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