„Ein digitales Mindset ist der ausschlaggebende Faktor, damit es vorangeht“

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„Ein digitales Mindset ist der ausschlaggebende Faktor, damit es vorangeht“

Der Begriff Digital Leadership bezeichnet einen neuartigen Führungsstil, der die digitale Transformation im Unternehmen als zentrale Säule der Leitungsaufgaben begreift. Yannick Niestroj, Distriktleiter für die Stadt Heilbronn bei der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort, sieht die Führungskräfte der Sozialwirtschaft in der Verantwortung, sich ihrer neuen Rolle zu stellen.

double_arrowWoher kommt Ihr Interesse für das Thema Digital Leadership?

Ich bin im Jahr 2012 mit einem Freiwilligen Sozialen Jahr in die Jugendhilfe gestartet und habe danach ein duales Studium Soziale Arbeit absolviert. Weil ich selbst sehr medienaffin bin, hat mich mein Weg zur Medienpädagogik geführt und ich habe einige Fortbildungen zu diesem Thema besucht. Parallel zu meiner Tätigkeit als Distriktleiter bei der Evangelischen Jugendhilfe Friedenshort absolviere ich ein Masterstudium „Governance Sozialer Arbeit“. Ich beschäftige mich also theoretisch und praktisch mit der digitalen Transformation.

double_arrowWie schätzen Sie den digitalen Fortschritt in der Sozialwirtschaft ein?

Ich sehe einen Gap zwischen dem technischen State of The Art und dem, was in der Sozialwirtschaft umgesetzt wird. Die Möglichkeiten werden wenig ausgeschöpft. Die Auseinandersetzung gewinnt zwar an Bedeutung, allerdings erlebe ich das, was sich tut, als ausbaufähig und noch in den Kinderschuhen steckend. Die digitale Transformation schreitet voran, benötigt aber noch zunehmend Expertise.

Es gibt zwei Gründe dafür, dass die Sozialwirtschaft beim Thema Digitalisierung nicht unbedingt Vorreiterin ist: Einerseits beinhaltet unser Kerngeschäft sensible zwischenmenschliche Interaktion, die durch digitale Ansätze unterstützt, aber nicht ersetzt werden kann. In diesem Kontext müssen bestimmte Rahmenbedingungen bewahrt werden und eine vollständige Automatisierung ist nicht möglich. Sowohl Mitarbeitende als auch Klient*innen dürfen vor allem in der Sozialwirtschaft nicht vernachlässigt werden – und das beansprucht Zeit.

Andererseits sind finanzielle Ressourcen knapp und Digitalisierung kostet Geld. Sie braucht kompetente Fachkräfte, technische Ausstattung und umfangreiche Organisationsentwicklungsprozesse. Viele Organisationen der Sozialwirtschaft haben einen gemeinnützigen Hintergrund und daher begrenzte Mittel zur Verfügung. Sie benötigen Fördermittel, kooperativen Austausch mit anderen Trägern und kreative Lösungen.

double_arrowWas können wir von anderen Branchen lernen?

In der freien Wirtschaft gibt es ganz andere Möglichkeiten. Die freiere Form der Finanzierung macht es möglich, Prozesse umfangreich zu optimieren. Die Logik der Wertschöpfungsprozesse in wirtschaftlichen Unternehmen ist auf das Ziel der Gewinnmaximierung ausgerichtet. Hier bestehen deutliche Unterschiede zum Hintergrund der Sozialwirtschaft und den gemeinnützigen Trägern. Denn dadurch stehen andere Mittel und Unterstützungsprozesse zur Verfügung und die digitale Transformation kann einfacher refinanziert werden. Natürlich gibt es auch in der Wirtschaft zwischen unterschiedlichen Unternehmen Unterschiede im Digitalisierungsniveau, allerdings nehme ich es so wahr, dass die Sozialwirtschaft sich hier trotzdem einiges abschauen kann.

Ich finde es beispielsweise immer wieder interessant zu beobachten, welche Tools und Methoden in Wirtschaftsunternehmen zu Einsatz kommen. Mittlerweile kommunizieren sie sehr transparent online und es gibt unterschiedlichste Möglichkeiten, um Einblicke zu bekommen. Durch dieses Lernen am Modell können wir auch die Innovationskraft in sozialwirtschaftlichen Einrichtungen vorantreiben, um uns weiterzuentwickeln. Die Rahmenbedingungen der Finanzierung dürfen keine Entschuldigung dafür sein, untätig zu sein.

Ziel ist einerseits, als digitalisierter Arbeitgeber auch für kommende Generationen der Arbeitnehmer*innen attraktiv zu sein. Denn der Nachwuchs betrachtet Arbeitsformen wie Remote Work und digitale Kommunikation als Standard. Andererseits geht es darum zu verhindern, dass unsere Klient*innen den Anschluss an die Weiterentwicklung der Gesellschaft verpassen. Alles befindet sich im Wandel. Die Lebensrealität der Menschen ist durchweg digitalisiert. Kindern und Jugendlichen tun sich ganz neue Welten auf. Demnach brauchen wir in der Sozialwirtschaft die Bereitschaft, sich darauf einzustellen.

double_arrowWie lässt sich das umsetzen?

Es braucht einen neuen, modernen Führungsansatz – eben Digital Leadership. Digitalisierung hat immer mit den Personen zu tun, die für Strategien verantwortlich sind, und bisher waren die eher konservativ gestrickt. Daran ändert sich gerade etwas. Von den Start-ups, die es ja auch in unserer Branche gibt, kann man sich abschauen, dass Digitalisierung nicht nur digitale Dienstplanung und digitale interne Kommunikation bedeutet.

Ich habe viele Kontakte zu neu gegründeten Unternehmen geknüpft und interessiere mich sehr für Social Entrepreneurship und dafür, was die Start-ups in Sachen Führung anders machen. Es ist natürlich etwas anderes, ob man komplett neu in den Markt einsteigt und die Gelegenheit hat, sein Unternehmen von Anfang an modern aufzustellen, oder ob man sich als Traditionsunternehmen zukunftsorientiert weiterentwickeln muss.

Aber ich mag die Herausforderung, die Lücke zu schließen. Ich erlebe gerade auch unter meinen Kommiliton*innen im Masterstudiengang eine große Bereitschaft, sich neu aufzustellen, und finde es spannend, mitgestalten zu können und neue Ansätze zu entwickeln.

double_arrowWelche Schritte müssen auf dem Weg der digitalen Transformation als erstes gegangen werden?

Digitale Gestaltung braucht zuerst einmal digitale Kompetenzen und technologische Affinität. Wenn ich möchte, dass meine Einrichtung professionell digitalisiert wird, muss ich die Mittel für Software und Expert*innen aufbringen. Die Bindung an Tarifverträge grätscht da rein, Gehälter wie Apple, Google und Tesla können wir nicht zahlen. Zukünftige Generationen von Führungskräften müssen sich also damit auseinandersetzen, woher das Geld kommen kann.

Damit es vorangeht, ist ein digitales Mindset der ausschlaggebende Punkt. Von dort aus sollte man nicht aktionistisch, sondern strategisch vorgehen. Keine hastigen Sprünge machen, sonst verliert man die Mitarbeitenden auf dem Weg. Es braucht zuerst ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der digitalen Transformation und eine Einigkeit darüber, dass etwas passieren muss. Dann wird der Status Quo analysiert, eine Vision formuliert. Wer kann mit einbezogen werden, wer hat Lust mitzumachen? Wo kann Budget herkommen? Und welche Methoden führen uns ans Ziel? Das sind die Fragen, die es zu beantworten gilt. Ein umfangreicher Prozess auf der gesamten Organisationsebene muss in Angriff genommen werden. Alle Ebenen und Bereiche müssen involviert und auf den Change Prozess vorbereitet werden. Hierbei bewegt der Einzelne wenig.

double_arrowIhr Lehrvideo eignet sich, um in Führungsgremien der Sozialwirtschaft über Digital Leadership zu reflektieren …

In meinem Lehrvideo gehe ich der Frage nach, was Digital Leadership für Führungskräfte in der Sozialwirtschaft bedeutet. Viele neue Herausforderungen kommen in hoher Frequenz auf sie zu. Der technologische Fortschritt beschleunigt das Ganze immer weiter. Führungskräfte müssen immer häufiger hochkomplexe Fragestellungen schnell bearbeiten.

Zum Glück gibt es bereits wissenschaftlich evaluierte Ansätze, wie sie erfolgreich auf diese veränderten Rahmenbedingungen reagieren beziehungsweise unter diesen Rahmenbedingungen agieren können. Denn es geht nicht nur ums passive Reagieren, sondern ums proaktive Mitgestalten. Zu den wichtigsten Methoden gehört das Agile Arbeiten. Es ermöglicht, Prozesse zu beschleunigen, Hierarchien abzubauen, Wissen umfangreich abzurufen und weiterzugeben. Effizienz und Effektivität werden gefördert, auch wenn Sozialunternehmen nicht von heute auf morgen zu High Tech-Unternehmen werden können.

double_arrowWas bedeutet das im Detail?

Als Führungskraft habe ich eine Multiplikatorenfunktion. Ich kann die digitale Transformation im Unternehmen nicht als Einzelperson stemmen, aber ich muss ein Vorbild sein. Da ist selbstkritische Reflexion gefragt: Wie fit bin ich eigentlich im Bereich Software und IT? Kann ich digitale Trends erkennen und daraus Implikationen für meine Organisation ableiten? Habe ich das notwendige digitale Mindset? Oder muss ich mich als Führungskraft aktiv darum bemühen, in die neue Rolle hineinzuwachsen?

Es gibt viel zu verstehen und kennenzulernen: Instrumente des Personalmanagements von der digitalen Personalakte über die digitale Dienstplanung bis zur digitalen Fallakte zum Beispiel. Außerdem neue Kommunikationswege von Microsoft Teams als Meeting Tool bis zum Miro-Whiteboard, mit dem man Aufgaben für ein teilweise mobil arbeitendes Team organisieren kann. Dann geht es darum, Hürden vorauszusehen: Welche Hindernisse kann es bei der Einführung einer Software geben? Und es geht darum, neue Methoden der Zusammenarbeit einzuüben und anzuwenden: hybride Meetings, Aufgaben- und Themenspeicher in der Cloud, agile Wege der Entscheidungsfindung.

Und nicht zuletzt habe ich als Führungskraft die Aufgabe, die Rahmenbedingungen der Branche voranzutreiben. Die Finanzierungslogik des Sozialwesens muss weiterentwickelt, die Infrastruktur refinanziert werden. Da wird es viele Verhandlungsgespräche geben müssen. Schön wäre es, das verstaubte Image abzulegen und unsere Strukturen in der Sozialwirtschaft agiler zu gestalten. Dadurch tun sich innovative Wege auf und irgendwann haben wir ja vielleicht wirklich mal die Möglichkeit, eine Lösung hervorzubringen, die so gut ist, dass sie anderen Branchen als Vorbild dienen kann!

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2023

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