Scarlett Lardy ist Sozialpädagogin im Sozialdienst des Pestalozzi Kinder- und Jugenddorfs Wahlwies. Junge Menschen mit Beeinträchtigungen können dort eine von der Agentur für Arbeit geförderte Ausbildung in zehn verschiedenen handwerklichen und landwirtschaftlichen Betrieben machen. Darin erwerben sie auch inklusive Medienkompetenzen, um sich auf den Berufseinstieg vorzubereiten. Denn die Welt der Onlinebewerbung ist nicht eben barrierearm.
double_arrowInwiefern macht die Digitalisierung den Berufseinstieg für Menschen mit Beeinträchtigung schwerer?
Vor 12 Jahren, als ich meine Stelle im Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf angetreten habe, haben wir Bewerbungen mit unseren Absolvent*innen noch am Computer geschrieben und per Post verschickt. Heute ist bei fast allen Unternehmen eine Bewerbung per E-Mail gefragt, oder man soll seinen Lebenslauf auf monster.de hochladen oder ein Profil bei XING oder LinkedIn anlegen, um sich dann mit einem Klick auf eine passende Stelle bewerben zu können. Cloudbasierte Lösungen sind die Regel.
Für unsere Zielgruppe, die kognitiv schwach ist, ist das gar nicht so einfach. Sie verzetteln sich, wissen nicht mehr, wohin sie klicken müssen, sind überfordert von den vielen Informationen, die online zu finden sind, oder verstehen aufgrund ihrer Lese-Rechtschreibschwäche die Inhalte nicht. Die digitale Welt nimmt auf ihre Benachteiligungen wenig Rücksicht. Digitale Teilhabe und inklusive Medienbildung werden dringend benötigt, damit Menschen, die beeinträchtigt sind, an der digitalen Arbeitswelt teilhaben können.
double_arrowWie unterstützt das Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf diese Zielgruppe?
Besonders im letzten Ausbildungsjahr unserer von der Agentur für Arbeit geförderten Ausbildungsgänge beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema inklusive Medienkompetenzen. Wir üben zum Beispiel, wie man ein Foto auf dem Handy in eine PDF-Datei umwandelt, denn die Agentur für Arbeit nimmt bestimmte Belege nur als PDF entgegen. Für so etwas brauchen wir viel Zeit. Ein Jahr lang fotografieren wir mit unseren Auszubildenden z.B. jeden Monat die aktuellen ÖPNV-Fahrkarten und wandeln sie in PDFs um, um sie bei der Agentur für Arbeit einzureichen.
Das braucht viel Begleitung, vor allem weil wir es aktuell noch mit den letzten Jahrgängen zu tun haben, für die es noch nicht normal war, von der weiterführenden Schule automatisch eine E-Mail-Adresse zugeteilt zu bekommen oder Lernmaterialien von einer Lernplattform herunterzuladen. Da hat sich in den letzten Jahren, auch bedingt durch Corona, im deutschen Bildungssystem einiges geändert. Zukünftige Jahrgänge werden mit mehr Medienkompetenzen in die Berufsausbildung gehen.
Im 3. Lehrjahr gehen die Teilnehmer*innen bei uns in eine Phase über, die wir Absolventenmanagement nennen. Bis zu sechs Monate nach der Ausbildung betreuen wir sie beim Übergang in den Beruf. Ziel ist ein Einstieg im ersten Arbeitsmarkt. 80 % unserer Absolvent*innen aus diesem Jahr konnten wir schon erfolgreich beim Finden einer Stelle unterstützen.
double_arrowWas würden Sie sich von den Arbeitgebern für Ihre Zielgruppe wünschen?
Es wäre toll, wenn jedes Karriereportal und jede Onlinestellenbörse oben im Menü einen Button hätte, um auf eine Version in Leichter Sprache umzuschalten. Ansonsten helfen kürzere Texte, weniger Werbung gerade auf Onlinestellenbörsen, weniger Formularfelder im Onlinebewerbungsformular, eine größere Schrift. Am besten ist eine weiße Seite ohne viel Schnickschnack und visuelle Reize.
Einzig einige Icons (z.B. von einem Lebenslauf), die anzeigen, in welchem Bearbeitungsschritt ich mich gerade befinde, wären sinnvoll. Alles andere sorgt schnell für Reizüberflutung und Überforderung und führt dazu, dass Menschen mit Beeinträchtigung sagen: Damit will ich nichts zu tun haben, ich bewerbe mich lieber auf Papier.
double_arrowModerne Unternehmen lassen ihre Bewerbungsprozesse inzwischen über WhatsApp oder Recruiting Apps für Audiobewerbung laufen. Wäre das für Menschen mit Beeinträchtigung noch schwieriger?
Nein, das wäre einfacher als die Onlinestellenbörsen! Denn WhatsApp nutzt unsere Zielgruppe im Alltag sehr viel. Aber soweit sind die Handwerksbetriebe, in denen unsere Auszubildenden lernen, noch nicht. Ganz kleine Betriebe fordern die Bewerbung als E-Mail, die größeren Industrieunternehmen oder Handwerksketten sind auf den Onlinestellenbörsen unterwegs.
double_arrowWie können Sozialarbeiter*innen ihren Klient*innen in Sachen Digitalisierung helfen?
Wir Sozialarbeiter*innen müssen uns politisch einmischen, damit die digitale Transformation Barrierearmut verpflichtend mitdenkt. Nur wenn es eine Strategie für mehr Barrierearmut gibt, ist Gleichberechtigung möglich. Unsere Reha-Ausbildungen müssen konzeptionell angepasst werden, um das Thema inklusive Medienkompetenzen abzubilden.
Wir müssen uns als Sozialarbeiter*innen selbst mit modernen Apps und Tools auskennen, die unseren Klient*innen helfen können: vom Button auf der Website der Bundeszentrale für Politische Bildung, mit dem man in die Leichte Sprache umswitchen kann, bis zum KI-Tool, das schwere Texte in Leichte Sprache übersetzt. Beispielsweise die App Summ AI funktioniert zwar im Moment noch recht kompliziert mit Registrierung und ist nicht für jeden niedrigschwellig zugängig, aber das wird kommen.
double_arrowInwiefern hilft Ihnen als Sozialarbeiterin Ihr berufsbegleitendes Studium „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ dabei?
Ich bin jetzt am Ende des zweiten Semesters und konnte schon viele Anregungen mitnehmen und bei uns in der Einrichtung umsetzen! Ich habe Laptops und Tablets angeschafft und mit meinem Team darauf hingearbeitet, unsere Prozesse zu optimieren und zu digitalisieren. Für jede Projektarbeit, die ich im Rahmen des Studiums machen muss, suche ich mir einen Anwendungsfall aus meinem Arbeitsalltag, sodass die Projektergebnisse mir wirklich helfen.
In einer Umfrage erforsche ich gerade, welche digitalen Kompetenzen überhaupt in den Berufen, für die wir ausbilden, gebraucht werden. Wann benutzt der Maler oder die Schreinerin im Arbeitsalltag Softwares und digitale Endgeräte? Zum Beispiel, um Fotos zur Dokumentation der Baustelle zu machen oder Onlinereports zu verfassen. Darüber habe ich mit Auszubildenden und Meister*innen gesprochen und darüber will ich auch meine Masterarbeit schreiben.
Auch mit dem Thema Datensicherheit setzen wir uns im Studium auseinander. Ich habe begonnen, die Datenschutzgrundverordnung ausführlich zu studieren und zu prüfen, was wir umsetzen müssen. Für unsere Zielgruppe schreibe ich sie in Leichte Sprache um und werde dabei von meinem Professor sehr unterstützt.
Und nicht zuletzt haben wir gelernt, Lerninhalte in Form eines Lehrvideos visuell darzustellen. Ich habe ein Lehrvideo erstellt, in dem die moderne Welt der Onlinebewerbung für Menschen mit Beeinträchtigung erklärt wird. Das kann ich zur Einführung in die Thematik im Unterricht einsetzen:
Interview: Maja Schäfer