„Sozialarbeiter:innen sollten sich bei der Entwicklung von IT-Produkten einbringen“

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Sozialarbeiter:innen nennen als Motivation für ihre Berufswahl üblicherweise: „Ich will was mit Menschen machen“. Doch das darf nicht als Argument dafür dienen, sich der digitalen Technik zu verweigern. Denn die Verpflichtung, sich damit auseinanderzusetzen, ergibt sich aus den Bedürfnissen der Zielgruppe, findet Abaz Sabic, Mitarbeiter im Jobcenter Stuttgart und Studierender im Studiengang „Digitalisierung und Soziale Arbeit“ der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. In seinem Lehrvideo geht Sabic sogar noch einen Schritt weiter und fordert Sozialarbeiter:innen auf, aktiv an der Entwicklung von IT-Produkten mitzuwirken.

double_arrowWarum sollten sich Sozialarbeiter bei der Entwicklung von IT-Produkten einbringen?

Natürlich wird man ursprünglich Sozialarbeiter:in, weil man etwas mit Menschen machen möchte. Aber in der Berufspraxis merkt man schnell, dass man nicht nur „irgendetwas für die Menschen tun“, sondern wirklich helfen will. Und wirklich helfen bedeutet herauszufinden, was das Beste für die Klient:innen ist. Ihre Bedürfnisse zu verstehen und zu vertreten. Und da kommt das Thema Digitalisierung ins Spiel: Klient:innen der Sozialarbeit wünschen sich einerseits digitale Teilhabe. Und andererseits haben manche von ihnen wie andere Zielgruppen auch Berührungsängste gegenüber digitalen Hilfsmitteln und Kanälen.

Und da sehe ich uns Sozialarbeiter:innen in der Pflicht, diesen beiden Tendenzen zu begegnen. Einerseits sollten wir unseren Klient:innen die Angst nehmen, im Alltag auf digitale Hilfsmittel zurückzugreifen. Andererseits sollten wir dafür sorgen, dass sie die Produkte auch gut bedienen können und sie ihre Lebenswirklichkeit wiederspiegeln. Es geht mir nicht darum, dass Sozialarbeiter:innen digitale Produkte selbst entwickeln sollen, sondern dass sie eine Brücke zwischen Klient, ITler und anderen Beteiligten sind mit dem Ziel, die besten Angebote zu machen.

double_arrowWas kann bei der Entwicklung von IT-Produkten sonst schiefgehen?

Ein Informatiker kann aus seiner Sicht das beste Produkt entwickeln, das für eine digital affine Person mit dem neuesten Smartphone wunderbar funktioniert. Aber ein wohnungsloser Mensch, der kein oder nur ein altes mobiles Endgerät besitzt oder Scheu vor digitalen Angeboten hat, weil er es eben nicht gewohnt ist, jeden Tag im Büro am Computer zu arbeiten, kommt damit womöglich trotzdem nicht klar. Da sollte die Sozialarbeit einspringen und ein Sprachrohr sein. 

Bei dem Beispiel des Wohnungslosen wäre die Frage: Wie gestaltet man offene Angebote? Man muss ihm kein Handy in die Hand drücken, das wäre der falsche Weg und würde sowieso nicht funktionieren. Aber man kann Orte wie offene Beratungsstellen schaffen, wo der Klient Zugriff auf das Internet hat und Unterstützung dabei bekommt, es zu bedienen?

double_arrowAn welcher Stelle können sich Sozialarbeiter:innen konkret einbringen?

Oft sehe ich bei der Entwicklung digitaler Plattformen, dass die Agentur zum Erstgespräch kommt und danach ein Pflichtenheft schreibt, in dem alle verstandenen Anforderungen festgehalten werden. Und dann klinken sich die Auftraggeber, also die sozialen Einrichtungen aus und lassen die Agentur machen.

Doch das ist der falsche Ansatz. Sozialarbeiter:innen sollten den gesamten Prozess von der Ideenfindung zum Beispiel in einem Design Thinking Workshop über die Umsetzung im agilen Projektmanagement begleiten. Regelmäßiger Austausch und die Anpassungen der konzipierten Produkte an die Veränderungen der Realität sind wichtig. Denn Anforderungen ändern sich ständig. Wenn man 2015 eine App für syrische Geflüchtete entwickelt hat, muss sie aktuell für Geflüchtete aus der Ukraine sicher weiterentwickelt werden. Da kann man nicht auf das damalige Pflichtenheft pochen.

Ich habe keine Bedenken, dass Sozialarbeiter:innen in der Lage sind, das zu leisten. Denn es ist ein ganz zentraler Aspekt in der Arbeit mit Menschen, dass sich alles ständig ändert. Es läuft ja nicht so, dass unsere Klient:innen mit einem Problem nach dem anderen auf uns zukommen und wir eine Lösung nach der anderen für sie finden. Stattdessen gibt es dynamische Lebensumstände, an die wir unser Unterstützungskonzept ständig anpassen müssen. Vom Mindset her ticken wir also schon agil!

double_arrowWie können Sozialarbeiter:innen das noch ausbauen?

Macht Fortbildungen zu Themen wie Design Thinking oder Agiles Arbeiten! Habt keine Angst vor Fachbegriffen und Methoden wie „Product Owner“, „Scrum“ oder „Usability“! Die Herangehensweisen der ITler an Projekte sind gar nicht so technisch fokussiert wie man denkt, sie sind sehr pädagogisch und hätten genauso auch aus der Sozialarbeit stammen können. 

Meine Kommilitonen in meinem Studiengang haben sich den Themenkomplex „Digitalisierung und Soziale Arbeit“ selbst ausgesucht, sie sind oft Vorreiter:innen in ihren Einrichtungen. Aber wir haben auch Module, die als Wahlmodule für andere Studiengänge wie z. B. Governance, Soziale Arbeit oder Sozialplanung gedacht und bei denen die Teilnehmer:innen anfangs skeptisch sind. Doch am Ende des Moduls merkt man, dass es einen Change in der Denkweise gibt und sie dem Thema offener begegnen. 

double_arrowWie sind Sie selbst zu diesem Schwerpunktthema gekommen?

Ich war immer technikbegeistert und habe darum eine Ausbildung als Telekommunikationstechniker in meiner Heimat Bosnien-Herzegowina gemacht. Im ersten Ausbildungsjahr hatten wir Unterricht in Psychologie und ich habe mich in das Fach verliebt! Letztendlich habe ich mich für den Bachelor- und Masterstudiengang Soziale Arbeit entschieden, weil man Menschen dort noch direkter in ihren Lebensumständen begegnet als in der Psychologie. 

Nach dem Studium habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr in Deutschland gemacht und bin hiergeblieben. Anfangs habe ich mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten gearbeitet, und mittlerweile berate ich die jungen Leute im Jobcenter beim Übergang zwischen Schule und Beruf. Dort konnte ich Erkenntnisse aus dem Studium auch schon sinnvoll im Arbeitsalltag einbringen. Zum Beispiel wurden uns im Studium so genannte Virtual Reality-Brillen gezeigt und ein Anbieter, der Berufsberatung damit macht. Ich habe es organisiert, dass wir die Brillen auch eine Woche bei uns im Einsatz hatten. Unseren 16- bis 22jährigen Klient:innen hat das sehr gefallen. Oft reden wir ja nur über Berufe und es gibt gewisse Vorstellungen, aber es fehlt der echte Einblick. Man will aber auch nicht endlose Praktika in 20 Ausbildungsberufen machen, bevor man sich entscheidet. Da sind die VR-Brillen eine super Alternative.

double_arrowWer sollte sich Ihr Lehrvideo ansehen?

Das Video sollten natürlich Menschen sehen, die sich für Digitalisierung und Soziale Arbeit interessieren, aber mein Anliegen ist vor allem, dass auch Menschen, die in der IT arbeiten, es sich ansehen. Denn in der IT Branche gibt es viele altmodische Stereotypen über den Sozialarbeiter. Die beiden Zielgruppen sollten sich gegenseitig füreinander öffnen und sehen, dass sie gemeinsam die besten Angebote entwickeln können. 

Wir kennen alle hybride Studiengänge wie Wirtschaftsinformatik, die zwei verschiedene Disziplinen zusammenbringen. Das funktioniert auch für Digitalisierung und Soziale Arbeit, auch wenn das noch neu ist.

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2022

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