„Bisher gab es niemanden, der sich mit Pädagogik und Digitalisierung auskannte“

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Sozialarbeiterin Christin Kiesslich arbeitet als Fachberaterin für Kitas beim Jugendamt der Wissenschaftsstadt Darmstadt und absolviert nebenberuflich den Masterstudiengang „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“. Das passt perfekt zusammen, denn ihre Projektstelle im Rahmen des Bundesprogramms Sprach-Kitas ist auch dazu vorgesehen, Kindertagesstätten digitale Anwendungen näherzubringen, um inklusive Pädagogik zu ermöglichen.

double_arrowWie genau unterstützen Sie Kitas bei der Digitalisierung?

Mein Aufgabenfeld ergibt sich aus meinem Schwerpunkt der inklusiven Pädagogik, alltagsintegrierten sprachlichen Bildung, Zusammenarbeit mit Familien und Digitalisierung. Es geht darum, in der Kitaarbeit möglichst alle einzubeziehen und durch digitale Teilhabe auch soziale Teilhabe zu ermöglichen. Im Vordergrund steht dabei die Förderung der Chancengleichheit aller Kinder. Sprachbarrieren sorgen im Kita-Alltag für Herausforderungen, vor allem dann, wenn die Informationen aus der Kita nicht alle Familien erreichen.

In meinem Lernvideo erkläre ich, welche Hürden durch Sprachbarrieren entstehen und welche digitalen Möglichkeiten es bereits auf dem Markt gibt, um diesen entgegen zu wirken. Um allen Kindern und Familien die Teilhabe am Kita-Alltag zu ermöglichen, braucht es vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation, so können über digitale Lösungen zum Beispiel die Informationen für Familien in mehrere Sprachen übersetzt werden. Abwesende Kinder, die z.B. krank oder in Quarantäne sind, können sich über Videotools und das Endgerät der Eltern live in den Morgenkreis ihrer Kitagruppe zuschalten.

Es gibt auch eine App namens Polylino, in der rund 800 Bilderbücher in allen gängigen Sprachen angehört werden können. Vor allem für Kinder mit einer anderen Familiensprache als Deutsch bietet sich diese App an, um bei Sprachbarrieren Brücken zu bauen. Diese App war auch mein Einstieg in die Welt der digitalen Medien im Kita-Zusammenhang. 

double_arrowWelche Facetten hat die Digitalisierung in der Kita noch?

Neben Anwendungen zur Überwindung der Sprachbarrieren gibt es Softwarelösungen, die administrative Dinge vereinfachen. Die Adressdatenpflege, die Anmeldung, die Einholung von Einwilligungserklärungen, die Mahlzeitenplanung – all das kann viel schneller und effizienter digital abgewickelt werden. Es gibt auch Apps für die digitale Entwicklungsdokumentation, zum Beispiel Kitalino. Damit lassen sich Portfolios aus den Bastelarbeiten und Lernfortschritten der Kinder erstellen und können den Eltern beim Abholen noch am gleichen Tag gezeigt werden.

Und nicht zuletzt gibt es Apps, mit denen man Medienarbeit mit Kindern machen kann. Mit der App ComicLife kann man zum Beispiel Bildergeschichten oder bebilderte Anleitungen erstellen, mit der App Stop Motion Studio lassen sich Trickfilme produzieren und mit der App Chatterpix kann man Dingen, die man fotografiert, einen Mund geben, sie mit der eigenen Stimme sprechen lassen und so zum Leben erwecken. Mit all diesen Anwendungen kann man wirklich spannende pädagogische Angebote für Kinder entwickeln, und es gibt noch viele mehr: Book Creator, Pic Collage, Greenscreen, … Mit Hortkindern kann man natürlich schon ganz andere Projekte durchführen als mit Krippenkindern, aber selbst Krippenkinder schauen begeistert in die Polylino App hinein.

Über einen Digitalisierungszuschuss des Bundesprogramm Sprach-Kitas habe ich gemeinsam mit Blickwechsel e.V. eine einjährige Weiterbildung „Digitale Medien in der frühkindlichen Bildung“ organisiert und durchgeführt. Die Weiterbildung bestand aus 6 Modulen, die zwischen einigen Stunden und vier Tagen dauerten. In den Modulen lernten wir neue Anwendungen kennen, und zwischen den Modulen konnten die Teilnehmer:innen das Gelernte direkt in ihren Kitas ausprobieren. Bei jedem weiteren Zusammentreffen konnten Nachfragen geklärt und erfolgreiche Einsätze der Apps präsentiert werden. Die Teilnehmer:innen haben eine Multiplikator:innenrolle und sollen das erworbene Wissen in die Kita-Teams tragen.

double_arrowWie haben Sie das Vertrauen der Kitas und ihrer Mitarbeitenden gewonnen?

Ich hatte den Eindruck, dass die Kitas geradezu auf jemanden gewartet haben, der ihnen bei der Digitalisierung unter die Arme greift. In jedem Team fanden sich schnell zwei sehr motivierte und engagierte Fachkräfte für die Weiterbildung. 

Abgesehen davon bin ich nicht gleich mit Lösungsvorschlägen und Tipps gekommen, sondern habe gemeinsam mit den Fachkräften in der Weiterbildung herausgefunden, welche Apps sich im Alltag anbieten und welche eben nicht. Ganz oft habe ich die Referent:innen gebeten, mir eine App nochmal zu erklären, um damit zu zeigen, dass auch ich Lernende bin. So entstand nicht der Eindruck, dass jemand vom Jugendamt den Kitas etwas aufzwingen will. Stattdessen haben wir uns gemeinsam aufgemacht, die Welt der digitalen Medien zu erkunden und herauszufinden, welche Möglichkeiten sie uns bietet. 

Ich habe den Teilnehmenden freigestellt, welche Apps sie sich näher anschauen wollen, und von welchen kostenpflichtigen Anwendungen sie sich wünschen, dass wir sie über mein Projekt finanzieren. Ganz schnell haben sie begonnen, selbst zu recherchieren und Ideen einzubringen.

double_arrowWelche Projekte haben die Teilnehmenden Ihrer Weiterbildung in ihren Kitas umgesetzt?

Als am Ende der ersten Weiterbildungsrunde alle ihre Projekte präsentierten, sind sogar Tränen geflossen, so stolz waren die Teilnehmer:innen auf das, was sie trotz Pandemie und aller Herausforderungen mit der Technik geleistet hatten. Es hat sich gezeigt, dass Kitas digitale Medien einfach brauchen. Sie beschleunigen Prozesse, sorgen für Effizienz und Transparenz und letzten Endes bleibt den Fachkräften mehr Zeit für die Kinder. 

Eine Kita hat sogar den Hessischen Medienkompetenzpreis gewonnen für ein Gemüserätsel, das sie mit der App Chatterpix entwickelt hat. Die Kinder haben Gemüsesorten fotografiert, ihnen einen Mund verpasst und sie mit ihren eigenen Stimmen fragen lassen: „Ich bin rot, ich habe Kerne innendrin, was bin ich?“ Andere Kinder können dann die Gemüsesorten erraten und es gibt Auflösungsvideos.

double_arrowWie konnten Skeptiker:innen überzeugt werden?

In meine Weiterbildung kamen vorwiegend die digital affinen Kita-Mitarbeiter:innen und Fachkräfte, die schon lange auf eine Weiterbildung in diesem Bereich gewartet haben. Wenn sie dann in ihre Teams zurückkehrten und aus der Weiterbildung berichteten, trafen sie fast überall auf zwei Gruppen: die einen, die Lust auf digitale Hilfsmittel hatten, und die anderen, die sich nicht herantrauten oder den Sinn vom Einsatz digitaler Medien im Kita Alltag nicht sehen wollten. 

Letztere kann man überzeugen, indem man sie ausprobieren lässt. Manche Teilnehmenden haben Lernstationen in der Dienstbesprechung aufgebaut, wo die Kolleg:innen am Tablet mit einer bestimmten App eine Aufgabe erledigen sollten. Zum Beispiel ein Rätsel erstellen. Die Teams haben schnell gemerkt, wieviel Spaß das macht, und waren dann ganz begeistert. Manche Kitas haben sogar am Elternabend mit den Eltern eine App ausprobiert, um ihnen zu zeigen, dass ihre Kinder nicht etwa den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzen. Im Gegenteil, Medienarbeit mit digitalen Anwendungen ist sehr kommunikativ und man muss aktiv werden, um Ideen umzusetzen.

double_arrowWas waren die größten Herausforderungen für Sie?

Über meine Projektmittel aus dem Bundesprogramm Sprach-Kitas konnte ich für alle Sprach-Kitas iPads kaufen. Aber es stellte sich heraus, dass unsere IT-Abteilung den Support der Endgeräte aufgrund der Pandemie Situation nicht leisten konnte. Ich stellte mich daher selbst als Ansprechpartnerin für alle Fragen zur Verfügung. 

Das hat mich anfangs eingeschüchtert, weil ich mich auch nicht besonders gut mit der Technik auskannte und nicht abschätzen konnte, mit wie vielen Funktionsstörungen, Rückfragen und Frustrationserlebnissen ich es zu tun bekommen würde. Doch am Ende war es ein Selbstläufer. Die Fachkräfte haben sich selbst gut organisiert und gegenseitig geholfen. 

Die nächste Herausforderung ist nun das Thema Datenschutz. Ich möchte Lizenz-Rahmenverträge für kostenpflichtige Tools abschließen, die dann von allen Kitas genutzt werden können. Doch viele Apps sind nicht datenschutzkonform. Wir müssen nun also unter den vielen Anwendungen diejenigen finden, die wir überhaupt nutzen können.

double_arrowEs gibt also noch genug Arbeit für Sie zu tun…

Ich denke, das Arbeitsfeld steckt noch in den Kinderschuhen und wird immer wichtiger werden. Die Digitalisierung ist aus dem frühkindlichen Bildungsbereich nicht mehr wegzudenken. Bisher gab es aber niemanden, der sich sowohl mit Pädagogik als auch mit Digitalisierung auskannte. Meine Kommiliton:innen und ich erwerben in unserem Masterstudiengang wichtige Kompetenzen – für die Gegenwart und für die Zukunft. 

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2022

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