„Die Digitalisierung reiht sich inzwischen in andere drängende Herausforderungen ein“

folder_openInterview

Vor einem Jahr haben wir Prof. Dr. Michael Batz, Wissenschaftlicher Leiter des Masterstudiengangs “Digitalisierung in der Sozialen Arbeit” an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, für diesen Blog zu den Auswirkungen der Coronakrise auf die Digitalisierung der Sozialen Arbeit befragt. Ein Jahr später wollen wir wissen: Was ist davon übriggeblieben und welchen neuen Herausforderungen steht die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit heute gegenüber?

double_arrowProf. Dr. Batz, was hat sich in Sachen Digitalisierung in der Sozialen Arbeit im vergangenen Jahr getan?

In bestimmten Bereichen hat die Digitalisierung an Fahrt aufgenommen und verschiedenste Aktivitäten haben sich entfaltet. Nehmen wir als Beispiel die Onlineberatung, die während der Coronakrise ad hoc eingeführt oder ausgebaut werden musste. Inzwischen haben sich die pädagogischen Fachkräfte sehr intensiv damit auseinandergesetzt und gehen professioneller heran. Im Rahmen des „Blended Counselling“ erlauben Sie den Klient*innen ein Höchstmaß an selbstbestimmter Steuerung der Kommunikationskanäle. Sprich, die Nutzer*innen können entscheiden, auf welchem Kanal sie den Erstkontakt aufnehmen und die weitere Beratung in Anspruch nehmen möchten. Individuelle Kombinationen aus E-Mail, Face to Face, Messenger oder Video Call werden intensiv diskutiert und zum Teil auch bereits umgesetzt. 

double_arrowUnd in welchen Bereichen hakt es aus Ihrer Sicht noch?

Viele Digitalisierungsmaßnahmen laufen im Sozial- und Gesundheitswesen nach wie vor aktionistisch. Es werden einzelne Leuchtturmprojekte gestartet, ohne dass es eine richtungsweisende Digitalstrategie dahinter gibt. Schwerpunkte werden oft nicht auf das sinnvollste Thema gelegt, sondern auf den Bereich, wo es zufällig gerade Fördermittel zu beantragen gibt oder wo zufällig ein*e besonders digital affine*r, engagierte*r Mitarbeiter*in sitzt. Meist werden die Projekte unabhängig voneinander verfolgt und keine Synergieeffekte genutzt. Es fehlt der rote Faden von der umfassenden Vision bis zur Umsetzung.

double_arrowWelche Schwerpunkte empfehlen Sie sozialen Unternehmen in Zukunft zu setzen?

Es gibt drei Hebel, an denen Digitalisierung ansetzen kann. Ich kann meine Kund*innenschnittstellen digitalisieren, also digitale Kommunikationskanäle schaffen, über die ich erreichbar bin. Ich kann interne Prozesse digitalisieren, sie also softwaregestützt abwickeln – zum Beispiel digitale Fallakten führen. Und drittens kann ich digitale soziale Dienstleistungen erbringen. Also analoge Dienstleistungen in digitale umwandeln oder neue digitale Dienstleistungen ins Leben rufen. Mein Eindruck ist, dass die Digitalisierung interner Prozesse auf einem guten Weg ist, während es noch enormen Optimierungsbedarf im Bereich neuer digitaler Dienstleistungen gibt. 

double_arrowWarum kommen Sozial- und Gesundheitseinrichtungen da nicht weiter?

Die Herausforderungen, vor denen Sozial- und Gesundheitseinrichtungen stehen, sind vielfältiger geworden. Vor Corona war Digitalisierung jahrelang das wichtigste Trendthema auf der Agenda. Während der Pandemie hat es seinen Höhepunkt erreicht, weil Digitalisierungsfragen getrieben durch die Kontaktsperren und die Notwendigkeit von Alternativen im Vordergrund standen. Doch jetzt in der Nach-Coronazeit gibt es viele andere Krisenherde, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Massiv gestiegene Kosten durch die Energiekrise, einen immer erschreckenderen Fachkräftemangel bedingt durch den demografischen Wandel. Die Digitalisierung hat sich eingereiht in eine lange Liste gesellschaftlicher Herausforderungen, für die wir im Sozial- und Gesundheitswesen Lösungen finden müssen. Auch Nachhaltigkeit gehört zu den Trendthemen.

Einerseits relativiert das leider die Bedeutung der Digitalisierung. Andererseits kann man es auch positiv sehen: Wenn Digitalisierung nicht mehr das gehypte Trendthema ist, sondern ein regelmäßiger Punkt auf der Tagesordnung in Strategieklausuren, aber auch in Teamsitzungen auf niedrigeren Hierarchieebenen, dann können wir hoffen, dass es sie inzwischen als Alltagsaufgabe begriffen wurde und in Zukunft weniger aktionistisch, sondern mit einem gewissen Erfahrungsschatz und einer gewissen Souveränität angegangen werden wird.

double_arrowSie sprachen von Synergieeffekten zwischen verschiedenen Digitalisierungsmaßnahmen und Trendthemen, was meinen Sie damit konkret?

Zum Beispiel kann die Digitalisierung Antworten auf Nachhaltigkeitsfragen geben. Wenn Gremiensitzungen online stattfinden, statt alle Teilnehmer*innen in ein Kongresshotel anreisen zu lassen, reduziert das den ökologischen Fußabdruck (auch wenn natürlich auch das Internet einen ökologischen Fußabdruck hinterlässt). Die Digitalisierung kann auch die Antwort darauf liefern, wie wir zum Beispiel neue Zielgruppen im ländlichen Raum mit unseren Beratungsangeboten erreichen, indem wir ihnen ein niederschwelliges und einfach zu nutzendes Angebot als Alternative zu einer vielleicht weit entfernten Beratungsstelle eröffnen.

double_arrowEtwa seit Dezember 2022 ist ChatGPT in aller Munde. Wird diese Technologie Auswirkungen auf die Soziale Arbeit haben?

Bei der Frage, wie Künstliche Intelligenz unsere Kommunikationsprozesse verändern wird, stehen wir noch ganz am Anfang. Wir werden dadurch mit enormen Herausforderungen konfrontiert sein, aber auch viele neue Möglichkeiten erkennen. Und wir werden als Sozialarbeiter*innen nicht darum herumkommen, darüber nachzudenken, ob zum Beispiel auch eine von Künstlicher Intelligenz getragene Beratung ein Lösungsansatz sein könnte. Dabei müssen wir natürlich immer mit bedenken, dass die Glaubhaftigkeit unserer Hilfen nicht leidet. Wir kennen alle das gefakte Bild vom Papst im Pelzmantel. Unsere Klient*innen müssen sicher sein können, dass sie sich auf unsere Angebote verlassen können, auch wenn sie sich noch im Experimentierstadium befinden.

Das Thema ChatGPT spielt auch in der Ausbildung des Nachwuchses in Sozial- und Pflegeberufen eine Rolle. Studierende müssen lernen, wissenschaftlich zu arbeiten, dazu müssen sie Hausarbeiten schreiben. Aber wie kann ich als Lehrkraft sicherstellen, dass die Hausarbeiten von den Student*innen selbst formuliert und nicht mit ChatGPT erstellt wurden? Wir befinden uns mitten im Prozess zu sortieren, welche Gefahren in dieser Technologie stecken und wie wir uns darauf einstellen können. Ich halte es zum Beispiel für denkbar, eine mündliche Verteidigung der Hausarbeiten einzuführen. Im Gespräch merke ich, ob sich jemand wirklich mit einem Thema beschäftigt hat. Andererseits möchte ich ChatGPT auch nicht grundsätzlich verteufeln. Es spricht ja nichts dagegen, als eine von mehreren Inspirationsquellen zunächst mal zu schauen, was diese Technologie zu einem bestimmten Thema zu sagen hat. Solange ich danach anfange, selbstständig zu denken und zu arbeiten.

double_arrowKönnte es nicht auch sein, dass ChatGPT ein Strohfeuer bleibt?

Das glaube ich nicht. Dazu sind die Auswirkungen auf die Suchmaschinen, ganz alltägliche Apps und das „Internet of Things“ (Vernetzung von physischen und virtuellen Gegenständen und Technologien) zu groß. Es macht mir allerdings auch Sorgen, dass wir noch keine rechtlichen Rahmenbedingungen dafür haben. Zwar unterschreiben Unternehmen wie Google oder Microsoft Selbstverpflichtungen, verantwortungsvoll mit den neuen Technologien umzugehen, aber letztlich wissen wir nicht, was auf uns zukommt. Nicht einmal im allgemeinen Zusammenhang, und erst recht nicht in unserem besonders sensiblen Anwendungsfall im Sozial- und Gesundheitswesen. 

double_arrowWie passt sich Ihr Studiengang „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ an diese aktuellen Entwicklungen an?

Schon während der Konzeption des Studiengangs haben wir mit einkalkuliert, dass wir immer aktuell bleiben und uns weiterentwickeln müssen. Darum haben wir einige Module angelegt, in denen zwar die thematische Ausrichtung klar ist, die aber mit aktuellen Beispielen gefüllt werden können. Zum Beispiel das Modul „Digitalisierung von Prozessen und digitale Geschäftsmodelle“. Neue Varianten können jederzeit als Anwendungsfall eingebaut werden. 

Bei anderen Modulen haben wir den maximalen Freiraum gelassen, indem wir ihnen Titel wie „Aktuelle Entwicklungen und Diskurse“ gegeben haben. Hier legen wir jedes Jahr aufs Neue fest, welche Entwicklungen und Veränderungen durchgenommen werden. Im vergangenen Jahr waren das beispielsweise die Themen New Work und Mobiles Arbeiten in Sozial- und Pflegeberufen. Die Ansicht, dass man als Erzieher, Pflegekraft oder Sozialarbeiterin kein Home Office machen könne, ist ja weit verbreitet. Aber wir können uns nicht länger leisten, das Thema so pauschal abzuwimmeln, denn auch Mitarbeiter*innen in Sozial- und Pflegeberufen ist eine gute Work-Life-Balance immer wichtiger. Wir müssen Lösungen finden, die zumindest eine teilweise Arbeit von zu Hause möglich machen und die Gerechtigkeit gegenüber anderen Berufsgruppen wie Büromitarbeiter*innen wiederherstellen. Sonst werden Sozial- und Gesundheitseinrichtungen als Arbeitgeber noch unattraktiver als sie es ohnehin schon sind. 

double_arrowWas erwarten Sie vom anstehenden zweiten Barcamp „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit gemeinsam gestalten“?

Ich werde mit großer Freude daran teilnehmen und freue mich sehr auf das zweite Mal! Thematisch wird es um die Dinge gehen, die wir auch hier im Interview besprochen haben, aber mit einem höheren Detailgrad. Die grundsätzlichen Fragen sind bei unseren Studierenden bereits Teil des alltäglichen Diskurses. Das Interesse liegt nun auf der Umsetzung. Man ist mit seinem Digitalisierungsprojekt mitten im Prozess und stößt nun nach Einführung eines bestimmten Tools auf Herausforderungen: Wie kann das Onboarding laufen, wie gehen wir mit dem Datenschutz um? Die Fragen werden immer spezieller. Ich bin gespannt, ob wir mit den sehr unterschiedlichen Teilnehmer*innen beim Barcamp eine gemeinsame Schnittmenge finden. 

Es gibt auf jeden Fall noch viele ungeklärte Fragen zu besprechen, etwa: Wie lässt sich die digitale Beratung im Detail organisieren? Wie stellen wir sicher, dass es genügend Videoberatungschannels gibt und eine garantierte Erreichbarkeit in Spitzenbelastungszeiten? Wie finden wir Lösungen, die dem Datenschutz, aber auch den Bedarfen der Klient*innen gerecht werden? In vielen Onlineberatungsportalen der Wohlfahrtsverbände muss ich mich erst registrieren, damit eine datengeschützte Beratung möglich ist. Das ist aber nicht niedrigschwellig und die Klient*innen verstehen auch nicht, wie Anonymität möglich sein soll, wenn sie sich irgendwo anmelden und dann auch noch ihre Postleitzahl angeben müssen, mit der sie aus Abrechnungsgründen zu einer Beratungsstelle zugeordnet werden können. Da entsteht einiges an Verunsicherung.

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2022

Related Posts