„Auf digitale Worst Case-Szenarien vorbereiten“: Wenn zum Prüfungstress Technostress dazukommt

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Enthusiasten sprechen über die Digitalisierung oft ausschließlich positiv, als sei sie ein Allheilmittel. Tatsächlich ist sie ein Lösungsansatz für verschiedenste Probleme, der gleichzeitig neue Herausforderungen mit sich bringt. Zum Beispiel im Bereich Datenschutz oder auch im Bereich Mitarbeitergesundheit. Zur Digitalisierungsstrategie eines Unternehmens gehört es dazu, sich auch über diese Aspekte Gedanken zu machen, sagt Tristan Barteczek. Er ist Sozialarbeiter in der Psychiatrie und Studierender im Masterstudiengang „Sozialplanung“. 

double_arrowWelche Probleme für die Gesundheit der Mitarbeitenden bringt die Digitalisierung mit sich?

Viele Mitarbeitende in Unternehmen fühlen sich überfordert von den digitalen Arbeitsmitteln, die vom Computer über E-Mail und Smartphone bis zum Instant Messaging reichen. Auch im Sozial- und Gesundheitswesen wird ja schon per WhatsApp mit Bewerbern und Klienten kommuniziert oder Agenturen, mit denen die Unternehmen zusammenarbeiten, bringen Kommunikations-Apps wie Slack und Trello ins Spiel.

Konkret wird der Stress durch acht verschiedene Faktoren ausgelöst. Dazu gehören die Unzuverlässigkeit der Technik – sie funktioniert ja oft nicht – und der Druck durch die gefühlte Überwachung des Arbeitsplatzes. Es gibt ja zum Beispiel im Programm Outlook ein Ampelsystem, das anzeigt, welcher Mitarbeiter gerade verfügbar ist und auf eine E-Mail eigentlich sofort antworten können müsste. Weitere Stressfaktoren nenne ich im Video. Ständige Erreichbarkeit, Überlastung durch zu viele Informationen und keine Lust, sich in immer neue digitale Systeme einzuarbeiten, kennzeichnen unsere Arbeitswelt. 

Die psychische Überforderung äußert sich im Erschöpfungszustand oder Burnout, durch Ängste oder Depressionen. Das ist durch verschiedene Studien, die ich in meinem Lernvideo zitiere, belegt. Der Begriff Technostress als Sammelbegriff dafür wurde übrigens schon 1984 geprägt!

double_arrowWarum interessiert Sie das Thema Technostress persönlich?

Für mich ist die Digitalisierung natürlich auch total präsent, im Studium sind E-Mail, Instant Messaging und digitales Lernen selbstverständlich. Wir merken alle, dass es dabei auch zu Schwierigkeiten kommt, doch die wenigsten wissen, dass es schon einen Begriff dafür und Forschung dazu gibt. Die meisten merken nur, dass sie sich irgendwie angespannter und gestresster fühlen. Das fand ich interessant und das möchte ich ändern.

Wenn man sich für ein Studium im Hier und Jetzt entscheidet, muss man natürlich damit rechnen, dass sich Hochschulen digitaler Tools bedienen, um den Studienablauf zu gestalten, und dass sie gewisse Anforderungen an die technische Ausstattung der Studierenden haben. Und meine Generation, die im Leben schon viele Berührungspunkte mit digitalen Angeboten hatte, ist sicher grundsätzlich gut darauf vorbereitet. 

Aber wenn ich daran denke, wie ich meine erste Onlineklausur in meinem Wahlmodul geschrieben habe, muss ich sagen, dass auch ich als junger Mensch Technostress dabei empfunden habe. Wir mussten zum Beispiel zwei digitale Endgeräte zur Verfügung haben. Einen Laptop, an dem wir die Klausur geschrieben haben, und ein zweites Gerät, um uns von der Seite dabei zu filmen. Es entsteht erstmal der Druck, überhaupt zwei funktionierende Geräte zu haben. Wie machen das Studierende, die sich das nicht leisten können? Was macht man, wenn man nur ein älteres, nicht mehr so verlässliches Smartphone hat, oder das Handy kurzfristig kaputtgeht? 

Zum klassischen Prüfungsstress muss man hoffen, dass die Technik funktioniert, das WLAN stabil ist, man muss daran denken, vorher alle Geräte aufzuladen, und hoffen, dass der Akku ausreicht, dass Windows nicht gerade eine Systemaktualisierung durchführen will, während die Klausur läuft. Die Anspannung ist groß, ich war so froh, als es vorbei war!

Wenn man das ein-, zweimal gemacht hat, entwickelt man natürlich eine Routine und erkennt den Mehrwert. Ich konnte mir zum Beispiel den langen Anfahrtsweg zur Uni sparen. Und meine Hochschule hat einiges angeboten, um den Technostress zu reduzieren: Es gab eine Veranstaltung vorher, in der alles erklärt wurde, und eine Hotline, wo man sich bei Problemen melden konnte. Wir wussten, dass wir nicht gleich durchfallen, wenn die Handykamera versagt. Unternehmen müssen aufklären, sich auf Worst Case Szenarien vorbereiten und Sicherheit vermitteln – nicht nur eine neue Software einführen. 

double_arrowWer ist im Unternehmen dafür zuständig?

Zum einen kann jede:r Angestellte selbst etwas gegen Technostress tun. Im Lernvideo gebe ich einige Tipps. Wir haben es in der Arbeitswelt leichter, wenn wir mitgestalten und uns aktiv einbringen. Das kann also helfen. Jede:r weiß selbst am besten, was ihm oder ihr hilft „runterzukommen“, zum Beispiel Sport. Diese Strategien sollten bewusst eingesetzt werden.

Aber auch das Betriebliche Gesundheitsmanagement ist in der Pflicht. Digitalisierung kann nur gelingen, wenn ein Unternehmen den Aspekt Mitarbeitergesundheit mitdenkt. Leider tickt das Gesundheitsmanagement in vielen Betrieben noch eher altmodisch. Es gibt Rückenschulungen und es wird darauf geachtet, ob Tisch und Stuhl richtig eingestellt sind. Aber die Vermittlung digitaler Kompetenzen und Präventionsangebote gegen Technostress sind Mangelware. Das Thema müsste im Weiterbildungscurriculum für Gesundheitsmanager viel mehr Beachtung finden. 

Außerdem gibt es in immer mehr Unternehmen Betriebliche Sozialarbeit. Also Sozialarbeiter:innen, die als Ansprechpartner:innen für Mitarbeitende zur Verfügung stehen und zu den Herausforderungen des Lebens beraten. Auch diese sehe ich in der Pflicht, auf das Problem Technostress aufmerksam zu machen und Lösungen zu entwickeln. Denn unser Auftrag als Sozialarbeiter ist es, uns der Problemlagen, die durch den gesellschaftlichen Wandel entstehen, anzunehmen. Und darauf hinzuweisen, wo Handlungsbedarf besteht. Und das gilt eben nicht nur für die Lebenssituation von Menschen mit Fluchthintergrund oder Behinderung, sondern auch für die neuesten Auswüchse der Digitalisierung. Ob das tatsächlich passiert, hängt natürlich davon ab, welches Selbstverständnis jeder Einzelne von seiner Profession hat. 

double_arrowHat die Digitalisierung Grenzen? Sollten wir vielleicht auch digitale Tools wieder abschaffen, um Technostress entgegen zu wirken?

Auf jeden Fall sollte der Nutzen neuer digitaler Angebote ständig hinterfragt werden. Es ist wichtig, dass es Vorreiter:innen gibt, die sie ausprobieren. Aber danach muss man überlegen: Sind Onlineprüfungen ein gutes Format? Oder sind sie totaler Quark, weil zum Beispiel die Leistungen aller Studierenden schlechter werden und alle nur mehr Stress haben? Wenn letzteres zutrifft, sollten unbedingt noch einmal das Format, die Umsetzung und mögliche Alternativen geprüft werden.

Und wir sollten auf keinen Fall komplett auf „digital“ umstellen, so wie es leider in Pandemiezeiten zeitweise geschehen musste. Natürlich ist meine Generation privilegiert, weil wir uns über das Internet viele wertvolle Informationen selber zusammensuchen können. Früher gab es bei Youtube nur alberne Videos, heute gibt es hochwertige Tutorials zu soziologischen Themen, die einen wirklich weiterbringen. 

Aber genauso wichtig ist es mir, dass ich in der Hochschule echte Menschen vor mir habe, die nicht nur Wissen, sondern auch Lebenserfahrung vermitteln. Ich möchte nicht nur die Fakten lernen, sondern fordere den persönlichen Input aktiv ein. Ich habe Dozent:innen, die sich, obwohl sie älter sind als ich und einer anderen Generation angehören, viel besser mit digitalen Tools auskennen als ich. Sie haben mir erst klargemacht, wie beispielsweise die Sozialplanung von der Digitalisierung oder vom Agilen Arbeiten profitieren kann und bei welchen ganz konkreten Beispielen im Alltag einer Sozial- und Gesundheitseinrichtung digitale Tools helfen. 

Eine Onlineveranstaltung ist nicht einfach nur cool, weil sie modern ist, sondern weil Menschen mit Behinderung einfacher teilnehmen können, ohne den Stress mit der Anfahrt zu einem nicht barrierefreien Veranstaltungsort zu haben. Weil ich auch mit einem kleinen Budget, das für eine Live-Veranstaltung mit 500 Personen nicht ausgereicht hätte, über ein hybrides Format viele Menschen mit meiner Botschaft und meinem Thema erreichen kann.

Um zu verstehen, was der Megatrend Digitalisierung für unsere Gesellschaft und Gesundheit bedeutet, müssen wir aber immer auch analog zusammenkommen. Und die Angebote gegen Technostress müssen zielgerichteter eingesetzt und besser miteinander verwoben werden. Nicht nur hier eine Schulung und dort eine IT-Support-Hotline, sondern ein richtiges Konzept. Digitalisierung lässt sich nicht immer reibungslos umsetzen. Wir alle lernen ständig dazu. Und es ist sehr wichtig, dass wir immer wieder drüber nachdenken, wie wir es besser machen können.

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2022

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