„Prozesse neu denken, anstatt sie 1:1 von analog in digital zu übersetzen“

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Wenn Unternehmen bürokratische Software einsetzen oder digitale Lehre nur Vorlesung via Livestream bedeutet, haben wir Digitalisierung falsch verstanden, meint CEO Thomas Bornheim von der Programmierschule 42 Heilbronn. Gute digitale Angebote sollten einen echten Mehrwert und mehr Innovation bieten als bloß digital zu sein. So wie die Programmiererausbildung bei 42 Heilbronn eben.

double_arrowWelche Aspekte der Digitalisierung kommen in Unternehmen häufig zu kurz?

Die meisten Unternehmen glauben leider noch, Digitalisierung bedeute, analoge Prozesse eins zu eins ins Digitale zu übertragen. Alles, was vorher mit Zetteln funktionierte, können wir nun genauso am Computer machen. Doch Digitalisierung bedeutet mehr als das. Sie ist eine Möglichkeit und bringt sogar eine Verpflichtung mit sich, unsere Ziele und Prozesse ganz neu zu denken. 

Bei einer eins zu eins Übersetzung können wir nur verlieren. Meist bleibt es beim selben Aufwand wie vorher, die Aufgabe dauert genauso lange und zusätzlich entstehen Intransparenz und ein Mehraufwand für die Wartung. Wenn früher ein Formular verloren ging, habe ich es nochmal schnell kopiert. Heute muss ich einen IT-Experten rufen, der in den Untiefen des Servers danach sucht.

Wir Deutschen mögen große Worte wie eben Digitalisierung. Aber wir haben es bisher nicht geschafft, dass uns die Computer wirklich Arbeit abgenommen hätten. Nehmen wir das Onlinebanking: Ich kann zwar jetzt meine Überweisung digital in Auftrag geben und es ist schön, dass ich nicht mehr mit dem Überweisungsträger zur Bank laufen muss. Aber die Arbeit, wenn etwas nicht funktioniert, muss ich jetzt als Kunde durchführen. Ich erreiche die Hotline nicht, sitze selber eine Dreiviertelstunde vor dem Computer und versuche, eine Lösung zu finden. Ich übernehme praktisch auch noch die Rolle des IT-Supports.  

double_arrowWie sollten Unternehmen stattdessen an ihre Digitalstrategie herangehen?

Die Frage muss lauten: Was will ich eigentlich abwickeln und wie kann ich es mit neuen, digitalen Mitteln besser machen als früher auf analogem Wege? Nehme ich meinem Kunden oder Klienten mit meinem digitalen Angebot wirklich Arbeit ab oder wälze ich nur meine Aufgaben auf ihn ab? Gute digitale Produkte saugen keine Aufmerksamkeit. Sie erleichtern das Leben. Sie fallen gar nicht auf. Sie schaffen gute Lebensräume, ohne dass sie uns im Gesicht kleben. 

Ein erfolgreiches Beispiel ist die Firma Tesla. Sie hat verstanden, wie die Digitalisierung einen Mehrwert bringen kann. Die Qualität der Elektroautos von Tesla ist eigentlich eher durchschnittlich. Aber die Möglichkeit für den Besitzer, mit dem Produkt zu interagieren und seine Features digital zu steuern, ist bahnbrechend. Nicht die Hardware des Fahrzeugs, sondern die Nutzererfahrung wird mit digitalen Mitteln optimiert – und das ist das Erfolgsgeheimnis und der neue Ansatz.

double_arrowWelches Konzept verfolgen Sie bei 42 Heilbronn, um die Digitalisierung in diesem Sinne zu fördern?

42 Heilbronn ist eine kostenfreie Programmierschule in Vollzeit nach einer Idee aus Frankreich. Wir bilden Programmierer:innen mit einem alternativen Lernmodell aus, das wir für sehr inspirierend halten. Dabei verzichten wir auf Bücher, Lehrer und Langeweile. Stattdessen setzen wir auf Gamification. Das bedeutet, unsere Kurse sind wie ein Computerspiel aufgebaut. Jedes absolvierte Projekt schaltet das nächste frei, Erfahrungspunkte zeigen den Fortschritt an, und die Komplexität der Aufgaben nimmt zu. Wir verfolgen also selber den Ansatz, den ich oben beschrieben habe: Statt einfach nur Vorlesungen live zu streamen oder Lehrbücher als eBooks anzubieten, bieten wir praxisorientiertes Lernen. 

Eine weitere Besonderheit ist das Peer Learning, die Peer Evaluation. Nicht der Lehrer kontrolliert die Lernergebnisse oder gestaltet den Unterricht, sondern das machen die Lernenden miteinander und gegenseitig. Dadurch festigen sie ihr Wissen, erreichen Ziele gemeinsam und entwickeln einen Teamgeist. Es gibt zwar auch ein pädagogisches Team, es sorgt aber nur dafür, dass alles reibungslos funktioniert, und nimmt Zwischenprüfungen ab. 

Unsere Studierenden lernen sehr praxisorientiert, unser Lernplan vermittelt die Grundlagen des Programmierens, die Spezialisierung erfolgt in der Praxis. Dadurch bereitet er auf den Berufsalltag vor. Bei jedem neuen Projekt ist es das Ziel, sich das notwendige Wissen selbst zusammenzusuchen. Und den Mut zu finden, sich der neuen Herausforderung zu stellen. Den Studierenden werden Meilensteine und Deadlines empfohlen, aber sie können in ihrem individuellen Tempo arbeiten und Projekte beliebig oft wiederholen. Die Ausbildung ist auf drei Jahre angelegt, aber man kann auch schneller fertig sein oder länger brauchen.

double_arrowWerden Ihre Absolventen in der Arbeitswelt ernstgenommen?

Laut der Erhebungen des 42 Netzwerks bekommen 100% unserer Studierenden einen Job, 80% werden sogar bereits vor dem Abschluss in eine Anstellung aufgenommen. Sie werden Softwareentwickler, IT-Infrastrukturverwalter, Usability Designer, Netzwerkadministratoren und vieles mehr. 30% gründen ihre eigenen Unternehmen. Und das, obwohl 50% der Studierenden vorher noch nie gecodet haben und obwohl man bei uns (noch) keinen zertifizierten Abschluss erwerben kann. Aufgrund des großen Erfolgs gibt es weltweit schon 36 Partnerschulen in über 20 Ländern über alle Kontinente verteilt. 

Bei 94.000 freien IT-Stellen im Hochlohnsegment in Deutschland haben die Unternehmen inzwischen verstanden, was Unternehmen in den USA schon vor 15 Jahren verstanden haben: dass man Programmierern eine Umgebung bieten muss, in der sie sich wohlfühlen. Daher ist es wirklich nicht so, dass wir in unserer Programmierschule in einer Blase leben, die an der Realität vorbeigeht.  

Unsere Studierenden absolvieren zwei Pflichtpraktika. Wir bieten dafür 110 Praktikumsplätze in verschiedensten Unternehmen an, und diese Unternehmen freuen sich auf unsere Leute. Sie haben in der Vergangenheit genug Bachelor- und Masterabsolventen ausprobiert und sagen mir: Die ticken nicht so innovativ wie wir es uns wünschen. 

Es gibt auch den Fall, dass ein Betriebsrat sich querstellt, wenn ein Bewerber von uns ohne Zertifikat kommt. Gerade bei großen, namhaften Firmen dauert es manchmal etwas länger, bis sie sich neuen Wegen öffnen. Aber nach etwas Vermittlungsarbeit ist es oft soweit und sie teilen unsere Einstellung, dass es egal ist, wie und wo jemand seine Fähigkeiten erworben hat – Hauptsache, er oder sie kann den Job gut machen.

double_arrowWelcher Menschentyp eignet sich für diese neue, weit mehr als digitale Art zu lernen?

Wir wählen unsere Studierenden in der so genannten „Piscine“ aus. Das ist ein dreiwöchiges Boot Camp mit sechs bis acht Stunden Programm am Tag. Wir legen Wert darauf, es nicht Assessment Center zu nennen, denn in der „Piscine“ wird man nicht nur durchgeprüft. Egal, ob man am Ende die Zulassung bekommt oder nicht, nimmt man etwas für sich mit und erlernt die Grundlagen des Programmierens. Es geht darum, für sich herauszufinden, ob unsere Lernmethode etwas für einen ist.

„Piscine“ heißt auf Französisch Schwimmbad und wir vergleichen es mit dem Sprung ins kalte Wasser. Bei uns liest man nicht drei Bücher übers Schwimmen und versucht sich dann daran. Man springt sofort ins Becken, hält sich erstmal am Rand fest, kommt mit Personen ins Gespräch, die schon schwimmen können, fasst den Mut zu ersten eigenen Versuchen und schaut, was passiert.

Diese Methode passt nicht zu jedem. Wer sich nicht gut selbst strukturieren kann, lernt sicher besser im „Consumer“ Modell, wo ihm jemand sagt, zu welcher Uhrzeit er in welchem Kurs sitzen muss. Bei uns gestalten die Teilnehmer dagegen ihre Zeit selber und bringen Eigenmotivation ein. Dafür werden sie wirklich fit für eine Karriere gemacht. Sie lernen nicht nur Programmieren und Strukturieren, sondern auch Respekt. Respekt vor Problemen und Aufgaben, Respekt vor neuen Lösungsideen. Respekt vor den anderen Teammitgliedern und ihren Ressourcen. Klar darf man Fragen stellen, aber vorher sollte man sich überlegen, ob man die Antwort nicht bei Google findet. Klar darf man sich Hilfestellung holen, aber man sollte auch etwas in die Gemeinschaft zurückgeben. Das sind Regeln, die in der IT-Community wichtig sind, um gut klarzukommen.

Es hängt also von der Motivation und dem Mindset und nicht vom Hintergrund ab, wer zu uns passt. Wir haben Start-up-Gründer an Bord und Psychiater, die in ihrem Umfeld digitale Angebote machen wollen. Wir haben eine Lehrerin, die mit 30 aus dem Beruf ausgestiegen ist, weil sie die Realität an deutschen Schulen so deprimierend fand, und nun das Programmieren lernen möchte, um das Bildungssystem zu verbessern. Auch aus dem Health Care Bereich sind Teilnehmer dabei. Hier in Heilbronn gibt es das Molit Institut für personalisierte Medizin, wo sehr viel Innovatives passiert. 

double_arrowWelche Themen empfehlen Sie im Barcamp „Digitalisierung und Soziale Arbeit“ zu diskutieren?

Digitalisierung im Sozial- und Gesundheitswesen hat viele Facetten. Die Branche muss sich Themen öffnen, denen sie bisher eher skeptisch gegenübersteht. Wir sollten uns fragen, ob es wirklich so schlimm ist, wenn Roboter uns eines Tages bestimmte Pflegetätigkeiten abnehmen. Auch wenn die Entwicklung im Moment etwas stockt – irgendwann wird das kommen. 

Letztendlich ist es nicht nur eine Frage der Demografie, sondern auch ein wirtschaftlicher Faktor. Menschliche Arbeitszeit ist teuer. Es ist ganz normal, dass wir uns fragen, an welcher Stelle der Mensch ersetzbar ist. 

Und meiner Meinung nach haben wir in den reichen, westlichen Ländern, wo es uns so gut geht und wir trotz aller Unkenrufe ein vergleichsweise erstklassiges Pflegesystem haben, die Pflicht, uns zu fragen: Wo kann ich mit meiner Arbeit wirklich einen Unterschied machen? Wo kann ich mich einbringen und die Welt verbessern? Anstatt meinen Arbeitsalltag mit stumpfen Wiederholungsaufgaben zu verbringen, die auch eine Maschine für mich übernehmen könnte. 

Auch das Thema Diagnostik ist interessant: Ist es nicht toll, dass Computer besser diagnostizieren können als Ärzte, wenn sie Millionen Fälle weltweit miteinander vergleichen? Lässt sich für die Datenschutzfrage keine Lösung finden? 

Und die Ausbildungen in Sozial- und Gesundheitsberufen könnte man diskutieren. In den Bildungszentren vieler Branchen gibt es inzwischen Computerräume und White Boards, aber es sind weiterhin meist Ausbildungen, in denen Wissen lediglich konsumiert oder im Praxisunterricht Standardlösungen nachproduziert werden. Stattdessen könnten Auszubildende projektbezogen, selbstständig und in Gruppen arbeiten, alleine Lösungen finden, neue Lösungen ausprobieren dürfen. Sie könnten lernen, sich das für ein Problem benötigte Wissen selbst zu beschaffen. Sie könnten zu mitdenkenden und mitgestaltenden Mitarbeitenden herangezogen werden. Ähnlich wie in unserer Programmiererausbildung.

Nicht zuletzt ist eine interessante Frage, wie die Digitalisierung die Lebensqualität im Alter verbessern kann. Stichwort Shopping Apps für Menschen in Pflegeeinrichtungen oder Teilhabe bis zum Schluss für Menschen in palliativen Einrichtungen. Wenn wir in diese Richtung weiterdenken, wird uns das in einigen Jahren selbst zugutekommen. Denn wir werden alle alt, und das wäre leichter, wenn wir Lust darauf hätten, weil wir wüssten, es gibt dann gute digitale Hilfsmittel für uns.

Interview: Maja Schäfer

Tags: 2022

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