Beim Thema „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ wirken dieselben Mechanismen wie vor einigen Jahrzehnten beim Thema „Wirtschaftlichkeit in der Sozialen Arbeit“, findet Prof. Dr. Paul-Stefan Roß, Dekan des Fachbereichs Sozialwesen am Center for Advanced Studies der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Genauso wie es inzwischen Alltag geworden ist, soziale Unternehmen und Organisationen wirtschaftlich zu führen, kann es Alltag werden, dass sie Digitalisierung mitgestalten.
double_arrowWelche Trends in Sachen Digitalisierung der Sozialen Arbeit sehen Sie im Jahr 2023?
Es geht längst nicht mehr nur darum, uns als Sozialarbeiter*innen mit digitalen Tools, die auf dem Markt angeboten werden, auf den neuesten Stand zu bringen, oder Social Media-Kanäle zu bedienen, sondern darum, ganz neue digitale Modelle zu denken. Zum Beispiel Künstliche Intelligenz (KI) in der Beratung.
Es gibt Ansätze, mit KI Anrufe bei Telefon-Hotlines vorzusortieren, um die Anrufer*innen zielgenauer an die richtige Stelle lotsen zu können. Oder Modellprojekte, wie man mittels KI große Datenmengen – z.B. Fallakten – sichten kann, um ein Gefährdungsrisiko etwa für Adipositas bei Jugendlichen oder Kindeswohlgefährdungen in Familien zu ermitteln. Das sind sehr spannende Entwicklungen – sicher auch mit Risiken, aber auch mit vielen Chancen!
double_arrowWie reagieren die Sozialarbeiter*innen in Ihrem Masterstudiengang „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ darauf?
Wir erleben eine spannende Resonanz auf unseren Masterstudiengang, den wir ja erst seit 2021 anbieten. Grundsätzlich sind alle begeistert, weil es einen solchen Studiengang bundesweit nirgendwo anders gibt und Expertise in diesem Bereich dringend gebraucht wird. Die bisherigen Teilnehmer*innen, vor allem Führungskräfte aus der mittleren Führungsebene, sagen: „Das ist genau das, was ich gebraucht habe!“ Im ersten Jahr hatten wir eine Handvoll Anmeldungen, im zweiten Jahr war es der am stärksten frequentierte Studiengang an unserer Fakultät, im dritten Jahr erleben wir einen Rückgang an Teilnehmer*innen.
Möglicherweise liegt das daran, dass das Interesse am Thema zwar da ist, aber die Komplexität, die sehr schnell klar wird, wenn man sich über unser Curriculum informiert, dann doch wieder abschreckt. Trotz des Diskurses bleibt Digitalisierung für viele Sozialarbeiter*innen ein diffuses Thema. Da fragt man sich: „Will ich mich da wirklich reinknien?“ Allerdings gilt das auch für andere Branchen und unsere wirtschaftlichen Studiengänge. Für die großen Konzerne ist die Digitalisierung inzwischen Alltagsgeschäft, aber die kleinen und mittelständischen Unternehmen tun sich genauso schwer wie das Sozial- und Gesundheitswesen.
double_arrowEs ist sicher ein Balanceakt, gleichzeitig die neuesten Trends im Studium zu behandeln und Laien abzuholen…
Wir können nur immer wieder betonen, dass Sozialarbeiter*innen den Auftrag haben, Unterstützung in den konkreten, alltäglichen Lebenswelten der Menschen zu leisten, mit denen sie arbeiten. Und die Lebenswelten digitalisieren sich rasant, also muss sich die Sozialarbeit damit auseinandersetzen.
Nehmen wir Jugendliche, die im Leben nicht so gut dastehen. Da konnte ich als gute*r Sozialarbeiter*in noch nie einfach im Büro sitzen und warten, dass eine*r von ihnen vorbeikommt und sagt: „Ich brauche Unterstützung!“. Sondern ich musste auch mal an die Bushaltestelle oder in den Park gehen, wo die Jugendlichen abhängen. Dasselbe gilt jetzt für Aufenthaltsorte im Internet. Die Soziale Arbeit muss in der digitalen Welt präsent sein.
Früher wie heute lautet die Grundfrage: Bekomme ich es hin, junge Menschen Alternativen aufzuzeigen? So geht es z.B. konkret darum, ob ich plausibel machen kann, dass es noch andere schöne Möglichkeiten gibt, seinen Nachmittag zu verbringen, als im Park zu sitzen und zu kiffen. Und heute geht es eben auch konkret darum zu motivieren, nicht nur virtuelle Kontakte zu pflegen, sondern auch reale – sei es mit einer Beraterin oder mit Gleichaltrigen.
Nicht zuletzt ist es sehr wichtig, dass die Soziale Arbeit eigene Kompetenzen aufbaut und das Thema Digitalisierung in allen Konsequenzen, mit allen Chancen und Risiken durchdringt. Wir sollten uns nicht von anderen Professionen wie Psycholog*innen oder Informatiker*innen erklären lassen, wie es geht. Wir sollten mitgestalten!
double_arrowDigitalisierung bedeutet auch, dass Klient*innen mit Informationen aus dem Internet in die Beratung kommen. Wie können Sozialarbeiter*innen damit umgehen?
Grundsätzlich sind informierte Klient*innen immer etwas unbequemer als uninformierte – ich sage das mit einem Augenzwinkern. Damit muss man als Sozialarbeiter*in umgehen können, aber das musste man auch vor dem Internet schon. Letztendlich spielt es keine Rolle, ob jemand eine Information von Google mitbringt oder ob er oder sie sagt: „Meine Mutter meint aber dies und jenes“.
Wenn sich jemand mit seiner Situation bereits auseinandergesetzt hat, beginne ich mit meiner Beratung auf seinem Informationsstand und erkläre, dass es noch andere Perspektiven gibt oder dass die Informationen aus dem Internet aus bestimmten Gründen nicht zu dem Fall passen. Das ist alles nichts Neues, aber durch die Digitalisierung potenziert es sich und wir müssen damit rechnen, dass es zunehmend passiert.
Letztendlich hatten wir schon immer das Problem, dass der Durchschnittsmensch nicht weiß, was Soziale Arbeit wirklich ist. Die Klischees sind geprägt durch Hartz IV-Reality Soaps oder Serien wie „Die Super-Nanny“ im Fernsehen. Da wird Sozialarbeit häufig auf das Jugendamt reduziert und man ist wahlweise entrüstet, dass Kinder zu lange in dysfunktionalen Familien gelassen werden oder dass Familien zerstört werden, indem man Kinder herausholt. Oder es wird über einen Protagonisten berichtet, der Messie ist, und dann kommt die Sozialarbeiterin und sagt: „Ich bringe jetzt mal Dein Leben in Ordnung!“. Sie krempelt die Ärmel hoch und räumt auf. Hinterher gibt es Tränen, weil alles so gut gelaufen ist.
Das ist aber kein vernünftiger Ansatz Sozialer Arbeit. Es funktioniert nicht, wenn ich als Sozialarbeiter*in eine gute Idee habe, wie das Leben eines anderen Menschen funktionieren soll. Die Idee muss von dem oder der Betroffenen selbst kommen. Das ist wie beim Thema Ernährungsumstellung: Wenn ich das nur mache, weil es eine Expertin gesagt hat, aber im Stillen denke: „Die hat gar keine Ahnung wie es mir geht“, wird es nicht nachhaltig sein. Ich muss selber einsehen, dass ich etwas ändern muss.
double_arrowAlso bringt die fortschreitende Digitalisierung letztendlich keine neuen Herausforderungen, sondern eher „alten Wein in neuen Schläuchen“?
Ja, das ist die Erkenntnis, die bei mir so langsam reift. Die Umstände ändern sich zwar, aber im Kern landet man immer wieder bei denselben Prinzipien: Wir brauchen einfach „nur“ die nächste Adaption. Nehmen wir das Beispiel: ChatGPT. Manche sagen, die Technologie sei eine Revolution. Andere sagen: Sie ist einfach ein weiteres Informationswerkzeug wie Google oder Wikipedia. Was ich zusätzlich brauche, ist immer noch dasselbe: eine kritische Kompetenz, die Infos aus dieser Quelle einschätzen zu können. Wenn mir ChatGPT etwas Schönes schreibt, muss ich in der Lage sein zu beurteilen, ob das stimmen kann.
Das ist wie wenn ich mein „Navi“ im Auto benutze. Ich gebe mein Ziel ein und folge dem vorgeschlagenen Weg, aber ich sollte schon wissen, ob die Himmelsrichtung stimmen kann, damit ich frühzeitig merke, wenn ich aus Versehen einen falschen Zielort eingegeben habe. Bei der KI wird es allerdings umso schwieriger, die Ergebnisse einzuschätzen, je besser die Systeme werden, denn die Technologie kann manchmal auch haarscharf danebenliegen.
Oder nehmen wir die Diskussion über Wirtschaftlichkeit in der Sozialen Arbeit, die wir vor Jahrzehnten geführt haben. Ich erkenne im Diskurs über die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit vieles wieder, was wir damals schon debattiert hatten. Es ging darum, dass auch soziale Einrichtungen besser mit ihren finanziellen Ressourcen umgehen und sich mit Ökonomie auskennen sollten. Es gab viele Berührungsängste, und es fühlte sich an wie ein von außen aufgedrängtes Thema, mit dem man eigentlich nichts zu tun haben wollte. Sozialarbeiter*innen dachten: „Hauptsache, das Geld ist da, wir machen ja etwas Gutes damit“. Heute ist es ganz normal, dass soziale Unternehmen wirtschaftlich geführt werden. Dasselbe sollten wir für die Digitalisierung anstreben.
double_arrowDas zweite Barcamp „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit gemeinsam gestalten“ steht im November an, wie haben Sie das erste erlebt?
Mich hat vor allem der Modus der gemeinsamen Arbeit an konkreten Fragestellungen beeindruckt. Das hybride Setting war technisch sehr gut gelöst: einige Teilnehmer*innen waren im physischen Raum zugegen, andere virtuell zugeschaltet. Ich habe das Barcamp als Veranstaltungsformat als sehr co-kreativ erlebt. Nicht umsonst haben wir uns entschlossen, es zu wiederholen! Außerdem denken wir darüber nach, an unserer Hochschule ein co-kreatives Hub dauerhaft einzurichten.
Interview: Maja Schäfer