Das, was sich in der IT in den vergangenen 30 Jahren als Standard etabliert hat, muss dringend einmal neu gedacht und ausgemistet werden, findet Björn Gorniak. Er ist Produktmanager bei Connext Vivendi und spricht im Interview über IT-Systeme in Unternehmen, die nicht von den Arbeitsstrukturen, sondern vom Individuum ausgehen. Und über die „Pflegebrille“, die Pflegekräften direkt am Patientenbett mit Videoanleitungen zu technischen Geräten oder ärztlichen Konsultationen helfen kann.
double_arrowDigitalisierung und Deutschland: Was fällt Ihnen dazu ein?
In Deutschland wird nicht so recht verstanden, dass die Entwicklung digitaler Produkte „learning by doing“ bedeutet. Wir können nicht die perfekte Softwarelösung entwickeln, ohne sie jemals am realen Anwendungsfall auszuprobieren und auch Fehler zu machen.
Wenn wir hierzulande ein neues Produkt auf den Markt bringen, das noch „Kinderkrankheiten“ hat, wird in Deutschland gleich vom Scheitern gesprochen. Dabei gehört es zum ganz normalen Entwicklungsprozess dazu, nachzujustieren und zu optimieren. Eigentlich gehört es sogar zum Entwicklungsprozess des Menschen dazu. Wenn ein Kind laufen lernt, fällt es häufig hin, steht wieder auf und weiß beim nächsten Versuch, wie es besser geht. Bis es irgendwann richtig laufen kann. Genauso ist das bei der Digitalisierung.
Doch wenn wir in Deutschland digitale Lösungen ausprobieren möchten, kommt als Gegenargument der Verweis auf das enorme Risikokapital, das dafür nötig sei. Wenn man genau hinschaut, geht es aber gar nichts ums Geld, sondern um das Mindset. Deutschland als Land der Erfinder und Denker tüftelt nicht mehr gerne! In anderen Ländern ist das ganz anders. Ich war kürzlich auf Dienstreise in Finnland und habe die Zentralbibliothek Oodi besucht. Dort gibt es nicht nur Bücher, sondern man kann Experimentierräume mieten: Küchen, Räume mit 3D-Druckern, Räume mit Playstation und Xbox, Fotostudios, Musikstudios, moderne Besprechungsräume. Menschen werden zum Ausprobieren ermutigt. Das fand ich faszinierend.
double_arrowHäufig wird auch der Datenschutz als Totschlagargument benutzt…
Datenschutz und Datensicherheit sind wichtig, nicht nur im Sozial- und Gesundheitswesen. Nur weil es große Social Media-Konzerne gibt, die uns einen Mehrwert vorgaukeln, und dann Dinge mit unseren Daten tun, die nicht gut sind, heißt das nicht, dass das der einzige Weg wäre, mit Daten umzugehen.
Wir müssen uns zunächst eingestehen, dass eine gewisse Öffnung unserer Daten notwendig ist, wenn wir uns digital bewegen wollen. Und dann müssen wir uns anschauen, wie diese Öffnung sinnvollerweise umgesetzt werden kann. Muss ich zum Beispiel, wenn ich Wissen teile, unbedingt das Individuum identifizieren? Muss ein Arzt, den ich um eine zweite Meinung bitte, wissen, um welchen Patienten es sich genau handelt, oder reicht es nicht vielmehr, wenn er nur die medizinischen Fakten mitgeteilt bekommt?
Die Informatik hat Möglichkeiten, Daten in standardisierten Verfahren zu schützen. Das ist natürlich immer ein Wettlauf gegen die „dunkle Macht“ der Hacker. Man hat immer Angriffspotenziale, die man bewerten muss. Aber der Weg, aus Datenschutzgründen die Digitalisierung zu boykottieren, wird dazu führen, dass Unternehmen von anderen globalen Playern überrollt werden.
Um eine Kompromisslösung zu finden, hilft es, ins Ausland zu schauen. Die elektronische Gesundheitsakte in Österreich ist ein gutes Beispiel. Patienteninformationen werden zwischen unterschiedlichen Experten und Einrichtungen geteilt, doch ich als elektronische Identität habe die Möglichkeit, die Daten einzuschränken, die ich teilen möchte. Das ist ein sehr transparenter Ansatz. Hier ist natürlich auch der Gesetzgeber gefragt, Missbrauch vorzubeugen.
double_arrowWie baut man als Unternehmen derart komplexe IT Infrastrukturen nachhaltig auf?
Auch innerhalb eines Unternehmens gibt es verschiedene Stellen, die Daten von Patienten, Kunden oder Klienten sammeln und verarbeiten. Idealerweise geht man dabei nicht nur von den Anwendungsfällen aus, sondern vom einzelnen Menschen. Eigentlich müssten Unternehmen des Sozial- und Gesundheitswesens das am besten verstehen, denn sie arbeiten ja mit und für Menschen.
Jedes Individuum bekommt eine technische Identität, also einen Eintrag im digitalen System. Die erste Frage lautet: Wo ist der erste Kontaktpunkt des Menschen zum Unternehmen? Dort wird die technische Identität angelegt. Die zweite Frage lautet: Welche Daten brauchen wir wirklich? Oft werden Dinge abgefragt, die gar nicht wichtig sind.
Von der technischen Identität aus sollte man nicht in einzelnen Softwarelösungen denken, sondern sich das Ganze als Plattform oder Netzwerk vorstellen. Informationen müssen zwischen verschiedenen Abteilungen weitergegeben werden können, damit sie nicht überall neu erfasst werden müssen. Dabei müssen wir beachten, dass Menschen sich nicht standardisieren lassen und verschiedene, auch zukünftig möglicherweise entstehende „Use Cases“ mitdenken.
Ich beschreibe das gerne wie die Kommunikation unter Freunden. Man tauscht sich aus, aber dabei hält man Kommunikationsspielregeln ein. Das muss auch für IT-Lösungen gelten. So braucht nicht jede Abteilung in einer Gesundheitseinrichtung die kompletten Stammdaten, Versicherungsnummer und pflegerischen Verlaufsdaten eines Patienten.
double_arrowWie erkennt man einen guten Softwareanbieter, der IT-Strukturen auf diese Weise aufbaut?
Im Sozial- und Gesundheitswesen machen Komplexanbieter wie wir von Connext Vivendi Sinn, die digitale Lösungen für verschiedene Themen aus einer Hand bieten. Wir sind zum Beispiel gut im Bereich Klientenmanagement, Fallmanagement, Dienstplanung, Controlling und Dokumentation. Gleichzeitig ist es wichtig, dass der Anbieter deutlich sagt, welche Bereiche er nicht abdeckt. Denn selbst das komplexeste System kann nicht alles – dazu ist die digitale Welt inzwischen zu weit entwickelt. So haben wir im Bereich Recruiting nur ein sehr schlankes Basismodul im Angebot und die Bereiche Lohnabrechnung und Finanzbuchhaltung gehören nicht zu unseren Schwerpunkten. In diesen Bereichen sollte der Softwareanbieter dann aber umfassende Schnittstellen anbieten und den Datenaustausch zu anderen Systemen ermöglichen. Softwareanbieter, die sich an dieser Stelle abschotten, werden vom Markt verschwinden.
double_arrowEin spannendes Projekt ist die so genannte „Pflegebrille“. Was hat es damit auf sich?
Wir bewegen uns da auf dem Gebiet der Augmented Reality, also der erweiterten Realität. Wir haben uns in einem Konsortium vor rund 5 Jahren gefragt, welche neuen technischen Entwicklungen es gibt, mit denen man dem Fachkräftemangel entgegenwirken und eine gewisse Sicherheit in die Arbeitsprozesse bringen könnte. Nach dem Vorbild von Google Glasses und Virtual Reality Brillen haben wir mit einem Netzwerk aus Forschern die Pflegebrille entwickelt – eine Art Minicomputer, der wie eine Brille am Kopf getragen, mit Kopfbewegungen gesteuert werden kann und mir Informationen, die ich für meine Pflegetätigkeit brauche, auf den Brillengläsern einblendet.
Unser Ansatz war die Frage: Wie könnte wir eine Pflegekraft in der täglichen Arbeit am Bett unterstützen? Zunächst wird am Eingang des Zimmers ein QR-Code gescannt, der alle Informationen zum Patienten aus der digitalen Patientenakte abruft. Wenn die Pflegekraft nun eine Frage zur Medikation hat, kann sie die Bilderkennung nutzen und die Medikamentenpackung vor die Brille halten. Dann bekommt sie Anweisungen zur Dosierung oder kann sehen, ob es überhaupt das richtige Medikament ist. Sie kann über die Brille auch einen Arzt zur Televisite hinzuziehen.
Es ist noch ein Experimentierraum, in dem wir Dinge bewusst ausprobieren. Fast 1.000 Anwender:innen sind mit der Pflegebrille derzeit im Einsatz. Und zwar vor allem in speziellen Versorgungsformen wie bei der Wundversorgung oder in der Intensivpflege. Denn ausgebildete Fachkrankenpfleger:innen in diesen Bereichen sind rar und die Brille kann wirklich helfen. Auf der Intensivstation zum Beispiel beim Absaugen von beatmeten Patienten. Über die Pflegebrille können sich Pflegekräfte Videoanleitungen zur Benutzung und Reinigung von Beatmungsgeräten verschiedener Firmen ansehen.
double_arrowWie wird das Produkt in der Pflegebranche angenommen?
Am Anfang war die Skepsis groß. Inzwischen erleben wir, dass weniger von den Leitungskräften, aber dafür umso mehr von den Pflegekräften direkt am Bett der Nutzen erkannt wird. Dabei ist es sehr wichtig, dass wir als Softwarefirma die Anwender am Weiterentwicklungsprozess des Produkts teilhaben und uns immer wieder Feedback geben lassen, was funktioniert und was nicht.
IT-Experten müssen verstehen, dass man eine Lösung nicht einfach coden kann. Manches, was wir uns sehr praktisch in der Anwendung vorstellen, funktioniert im Arbeitsalltag einfach nicht. Anfangs wollten wir die Bedienung der Brille zum Beispiel vor allem durch Sprachsteuerung ermöglichen, aber die Pflegekräfte haben uns zurückgemeldet, dass es zu unangenehmen Situationen führt, wenn man neben dem Patienten steht und mit einer Brille über ihn spricht. Also haben wir uns bei der Entwicklung mehr auf Bilderkennung und die Steuerung mit Kopfbewegungen konzentriert. Das sieht übrigens anfangs oft sehr lustig aus, weil die Kopfbewegungen zu groß gemacht werden. Erst mit der Zeit lernen die Anwender, dass ganz kleine Bewegungen ausreichen.
double_arrowWie sehen Sie die Zukunft der Pflegebrille?
Die Pflegebrille ist einer der seltenen Fälle, wo das Gesundheitswesen bei neuen Entwicklungen einmal ganz vorne mit dabei ist. Inzwischen gibt es Telekommunikationsanbieter und mittelständische Unternehmen, die überlegen, ihre Service- und Handwerkerteams damit auszustatten, um vor Ort beim Kunden besser arbeiten zu können. In Finnland ist das Interesse an der Pflegebrille vor allem in der ambulanten Pflege groß, weil es auf dem Land weite Wege zu den Patienten zurückzulegen gilt und man nicht mal eben schnell Unterstützung in Form einer realen Person dazuholen kann. Das ist ein Einsatzbereich für die Pflegebrille, der in Deutschland auch noch nicht erschlossen ist. Der nächste Entwicklungsschritt ist unser Pflegeroboter Janni, der durch Informationen, die die Pflegebrille ihm gibt, zu Pflegehandlungen angeleitet wird. Hier werden wir erstmals Sensoriken untereinander vernetzen.
Interview: Maja Schäfer