Sozialarbeiterin Clara-Sophie Decker arbeitet in einem Aufnahmehaus der Wohnungslosenhilfe bei der Ev. Gesellschaft Stuttgart und studiert berufsbegleitend den Masterstudiengang „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“. Ein wichtiges Thema ist für sie ist das intelligente Wissensmanagement in sozialen Einrichtungen. In einem Lernvideo erklärt sie, welche Fragen bei der Implementierung geklärt werden sollten. Zum Beispiel: Wer muss alles eingebunden werden, welches Wissen sollte überhaupt sinnvollerweise im Wissensmanagement abgebildet sein und wie kann man die Nachhaltigkeit des Wissensmanagements sichern?
double_arrowWarum liegt Ihnen das Thema Wissensmanagement am Herzen?
Ich erlebe in der Praxis, was es bedeutet, kein funktionierendes Wissensmanagement zu haben: Mitarbeitende brauchen im Arbeitsalltag mehr Zeit für ihre Aufgaben, Wissen geht verloren oder ist nicht abrufbar, wenn jemand aus dem Unternehmen ausscheidet oder im Urlaub ist. Es gibt überfüllte E-Mail-Accounts durch E-Mail-Diskussionen mit großen Verteilern, bei denen niemand mehr den Überblick behält, und letztendlich fühlen sich die Mitarbeitenden durch das Chaos belastet und überfordert.
Wissen ist heutzutage ein Qualitätsmerkmal und ein Produktionsfaktor und deswegen möchte ich mit dem Video dazu beitragen, dass das Sozial- und Gesundheitswesen fit für die Zukunft wird. Mitarbeitende, die die Vorteile eines funktionierenden Wissensmanagements kennen, fordern dies zunehmend ein. Frust in dem Bereich kann dazu führen, dass man einfach den Arbeitgeber wechselt.
double_arrowKönnen Sie konkrete Situationen aus dem Sozialdienst in der Wohnungslosenhilfe beschreiben?
Wenn ein Klient beim Jobcenter einen Antrag auf Mehrbedarf stellen möchte, dann google ich nach einer Vorlage. Ich bin mir aber sicher, dass viele Kolleg:innen im Unternehmen schonmal solche Anträge geschrieben haben, die ich zur Inspiration nutzen könnte. Wenn ich wüsste, wo die Beispiele abgelegt sind, könnte ich dem Klienten schneller helfen. Dasselbe gilt beim Schreiben von Hilfeplänen. Oder aktuell soll in unserem Aufnahmehaus ein WLAN für die Klient:innen installiert werden. Wir Sozialpädagog:innen haben nicht viel Ahnung davon, aber andere Einrichtungen im Unternehmensverbund sind schon weiter. Mit einem funktionierenden Wissenstool könnte ich vielleicht eine Anleitung finden, die auf die konkreten Bedingungen in unserer Einrichtung passt. Stattdessen haben wir ein Gruppenlaufwerk mit vielen Dokumenten, aber ohne intelligente Suche. Um da etwas zu finden, bin ich länger beschäftigt als wenn ich im Internet suche. Ich kann nicht auf alle Laufwerke unternehmensweit zugreifen.
double_arrowWie reagieren Ihre Kolleg:innen auf Ihre Idee vom modernen Wissensmanagement?
Teils stößt man auf Widerstände mit solchen Ideen, aber wenn ich den Fokus auf die Vorteile lenke, sehen alle, dass es eine Arbeitserleichterung wäre. Man könnte online gemeinsam am selben Dokument arbeiten, wo jede:r stets die Kommentare und Änderungen der anderen sieht. Oder man könnte mit so genanntem User Generated Content arbeiten. Die Mitarbeitenden finden dann nicht nur PDF-Dokumente im Wissensmanagement, sondern können eigene Gruppen gründen, Blogartikel, Audiobeiträge, eLearning- und Live-Formate veröffentlichen und vieles mehr. Davon träume ich! Doch bei uns warten wir aktuell erstmal auf Umstellung auf Microsoft 365, um mit den Apps One Note und Sharepoint in ein sinnvolles Wissensmanagement zu starten.
In meinem Lernvideo habe ich eine kleine Checkliste zusammengestellt, welche Dinge man bereits im Team umsetzen kann, um Wissen nachhaltig zu integrieren – auch ohne ein digitales Tool. Wenn jemand z.B. auf eine Fortbildung geht, sollte immer dafür gesorgt werden, dass er oder sie das gewonnene Wissen danach teilt. Einfach einen Zeitslot in der nächsten Teambesprechung blocken! Auch kann man sich zusammensetzen und besprechen, wie die Laufwerke mit einer sinnvollen Ordnerstruktur besser sortiert werden können. Aufzuräumen und Dokumente aussagekräftig und mit Datum im Titel zu benennen ist Grundlagenarbeit. Die muss man auf jeden Fall machen, bevor man das Wissensmanagement mit einem digitalen Profi-Tool organisiert. Es kostet Zeit, aber man profitiert ab dem Tag, an dem man alles sortiert hat. Von da an ist man so viel schneller, dass sich der Aufwand amortisiert. Dann gibt es natürlich noch die Herausforderung, langfristig Ordnung im Wissensmanagement zu halten. Ich weiß von einem Pilotprojekt der Caritas. Dort soll mit Künstlicher Intelligenz ein lernendes System aufgebaut werden. Das ist eine wahnsinnig schlaue Idee, KI auch im sozialen Bereich sinnvoll einzusetzen!
double_arrowEs gibt noch nicht viele Expert:innen für Digitalisierung in der Sozialarbeit, warum möchten Sie dazugehören?
Während der Hochphase der Pandemie habe ich im Aufnahmehaus der Wohnungslosenhilfe gemerkt, was es für unsere Klient:innen bedeutet, digital nicht teilhaben zu können. Ich habe realisiert, dass digitale Teilhabe auch soziale Teilhabe ist. Dazu möchte ich meinen Beitrag leisten. Und da ich sowieso noch einen Master machen wollte, passte der Studiengang perfekt.
Ein Großteil unserer Klient:innen hat heutzutage ein Smartphone und nutzt es für alles Mögliche – wie jede:r andere auch. Natürlich gibt es auch Personen, die noch nicht digital unterwegs sind oder es nicht wollen, und das ist nicht unbedingt eine Generationenfrage. Ich hatte auch schon einen relativ jungen Klienten, dem es suspekt war, seine Daten auf irgendwelchen Plattformen einzugeben. Aber ich schätze, 80 Prozent unserer Klient:innen würden neue digitale Angebote speziell für die Zielgruppe Wohnungslose dankend annehmen.
Im Studium haben wir Wohnungslose befragt, welche Art von Apps ihnen helfen würde. Sie fänden es z.B. superhilfreich, wenn man über eine App einen Schlafplatz reservieren könnte und nicht im Winter schon Stunden vor Einbruch der Dunkelheit Schlange stehen müsste. Oder wenn sie über eine App die nächstgelegene Möglichkeit zu duschen, Wäsche zu waschen, ihr Handy aufzuladen oder an kostenloses Trinkwasser zu kommen finden könnten. Ein Pilotprojekt des Fachverbands AGJ Freiburg entwickelt gerade eine Cloud für Wohnungslose, in der sie ihre Dokumente hochladen können – von der Geburtsurkunde bis zum Jobcenterformular. Über die Cloud können die Dokumente mit Sozialdiensten geteilt werden. Ein solches Angebot würde durch die Decke gehen, denn im Moment tragen die meisten ihre Unterlagen mit sich herum. Und wenn jemand z.B. in Haft muss, gehen sie leicht verloren. Ich kenne einen Wohnungslosen, der den ganzen Tag einen ganzen Ordner mit wichtigen Dokumenten durch die Gegend schleppt, weil er dann ein besseres Gefühl hat. Mehr Digitalisierung auch in der sozialen Arbeit könnte dem ein Ende setzen.
Interview Maja Schäfer