double_arrow„Uns fehlt das gemeinsame Ziel“: Wo die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit heute steht
Von der digitalen Patienten- und Klientenakte bis zur digitalen Dokumentation. Von der Personalgewinnung über soziale Netzwerke bis zum mobilen Arbeiten. Von der hybriden Weiterbildung bis zur Terminvereinbarung via ChatBot: Das Trendthema Digitalisierung in der Sozialen Arbeit hat viele spannende Facetten. Doch haben Sozialarbeiter:innen Lust, sich darauf einzulassen?
Ein Interview mit Prof. Dr. Michael Batz, unter anderem Wissenschaftlicher Leiter des Masterstudiengangs “Digitalisierung in der Sozialen Arbeit” an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn.
double_arrowHerr Prof. Batz, welche Facetten der Digitalisierung in der Sozialen Arbeit außer den eingangs genannten gibt es noch?
Die digitale Planung und Dokumentation gehören genauso dazu wie onlinegestützte Beratungs-, Präventions- und Interventionsangebote. Apps und digitale Medien werden in der frühpädagogischen Praxis eingesetzt. Ansätze von New Work und Smart City finden sich in der Gemeinwohlarbeit. New Work ist dabei eine neue, flexiblere, nicht-hierarchische Organisationsstruktur für Unternehmen. Und Smart City ist ein Sammelbegriff für Entwicklungskonzepte, die darauf abzielen, Städte effizienter, technologisch fortschrittlicher, grüner und sozial inklusiver zu gestalten. Aber auch Robotik in der Pflege ist ein Baustein der Digitalisierung.
double_arrowWarum interessiert Sie persönlich das Thema?
Ich glaube, dass wir mit der Sozialen Arbeit in Sachen Digitalisierung in einem spannenden Prozess stecken. Der gesellschaftliche Wandel schreitet voran, doch das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit ist immer noch wesentlich auf den direkten Kontakt ausgerichtet. Und das ist auch gut so. Aber meine Sorge ist: Wenn wir uns zu passiv und abwartend verhalten, laufen wir Gefahr, die Lebenswelt unserer Klient:innen aus den Augen zu verlieren und für unsere Fachkräfte an Attraktivität einzubüßen. Irgendwann können wir den gesellschaftlichen Wandel nicht mehr mitgestalten. Soziale Arbeit könnte dann im schlimmsten Fall irrelevant werden.
Ich komme aus dem Bereich Sozialmanagement und glaube, dass wir die Potenziale der Digitalisierung, Effizienz und Qualität unserer Dienstleistungen zu verbessern, ungenutzt lassen. Als wir vor vier, fünf Jahren anfingen, den Masterstudiengang zu entwickeln, war für mich klar, dass wir uns mit ganz neuen Fragen auseinandersetzen müssen. Es gilt, Fehlentwicklungen aufzeigen. Wir brauchen den aktiven Willen, uns für die digitale Transformation verantwortlich zu fühlen, und Menschen, die das Know How haben, sie zu gestalten. Wenn ich mir die Realität im Bachelorstudium Soziale Arbeit anschaue und sehe, wie wenig das Thema Digitalisierung da eine Rolle spielt, erkenne ich großen Handlungsbedarf.
double_arrowHat Corona Digitalisierungsprozesse in der Sozialen Arbeit beschleunigt?
Ich fand die Coronazeit in der Hinsicht sehr spannend, habe aber unterschiedliche Wirkungsweisen erlebt. Zwangsläufig entstand eine „Turbodigitalisierung“ in Sachen Onlinekommunikation, Onlineberatung und Onlinelehre. Corona hat das Bewusstsein für die Sinnhaftigkeit des Ganzen beflügelt. Auf einmal wurde gesehen, dass die Digitalisierung tatsächlich hilfreich ist.
Ich habe aber zuletzt auch einen Reboundeffekt erlebt, eine Übersättigung und eine Sehnsucht nach realen Begegnungen. Es heißt dann: „Bitte kein weiteres Zoom-Meeting, bitte lasst uns wieder persönlich treffen!“ Digitale Möglichkeiten werden bewusst beiseitegeschoben.
Viele soziale Unternehmen und Organisationen haben während der Pandemie Angebote gestartet, die sie beibehalten haben und werden: New Work, Home Office, Flexibilisierung der Arbeit im Allgemeinen, Onlineberatung und vieles mehr wurden aus der Not heraus ausprobiert. Anfragen, die mich derzeit von Studierenden und aus Beratungsstellen erreichen, beziehen sich darauf, wie man diese Angebote, die man aus dem Ärmel geschüttelt hat, jetzt professionalisieren kann.
Die Frage muss aber auch lauten: Was sollte man besser wieder aufgeben? Nicht jedes Onlineberatungsangebot ist deshalb gut, weil es online stattfindet und man die Fahrzeit spart. Wir leben in der Sozialen Arbeit auch vom Beziehungsaufbau, der online zwar auch, aber anders möglich ist. Ob Corona-bedingt digitale Angebote also fortgeführt werden sollten, hängt von den Zielen und Interessen des einzelnen Projekts und seiner Zielgruppen ab.
double_arrowWie sind soziale Einrichtungen in Deutschland aus Ihrer Sicht in Sachen Digitalisierung aufgestellt?
Wir haben schon vieles geschafft, aber in unterschiedlichen Arbeitsfeldern mit unterschiedlicher Intensität. Größere Einrichtungen verfügen über die Ressourcen, eröffnen sich Fördermöglichkeiten, schaffen Stellen für Digitalisierungsbeauftragte, die Projekte vorantreiben. Ich erlebe aber auch, dass bei kleinen und mittleren Organisationen das Know How und die Ressourcen noch nicht da sind. Ich erlebe eine heterogene Situation bei den Fördermöglichkeiten. Es gibt inzwischen Fachverbände wie den Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft (VEDISO) e.V., die eine große Hilfe sein können. Mit VEDISO kooperieren wir auch in unserem Studiengang.
Was mir bei der sozialen Arbeit fehlt, ist das übergreifende Konzept, die große gemeinsame Ausrichtung. In den verschiedenen Handlungsfeldern der sozialen Arbeit finden sehr unterschiedliche Entwicklungen in Bezug auf die Digitalisierung statt. In der Pflege zum Beispiel, die ja im weiteren Sinne auch zu den sozialen Berufen gehört, sind wir an einigen Stellen bereits schon weiter gekommen, an anderen Stellen erlebe ich das noch gar nicht.
Aber selbst wenn es Pilotprojekte gibt, die für zwei Jahren refinanziert sind und spannende Ergebnisse bringen, ist oft die Verstetigung das Problem. Es gibt aber Best Practice Beispiele: Bei unserem „Virtuellen Kaminabend“, einem Forum für Impulse und Diskussionen für Interessierte im Bereich Digitalisierung der Sozialen Arbeit, stellte eine Studentin kürzlich die neue Mitarbeiter App ihres Arbeitgebers vor. Vom Urlaubsantrag bis zum Dienstplanabgleich können die Mitarbeitenden nun alles online erledigen. Das ist keineswegs selbstverständlich für eine soziale Organisation, zumal das sehr gut programmiert wurde. Viele der Anwesenden fanden es auch toll, nur war die Frage: Wie sollen wir das bezahlen? Es fehlt an Argumenten, um solche digitalen Neuerungen bei der Geschäftsführung durchzubringen.
double_arrowInwiefern trägt Ihr Studiengang dazu bei, die Lücken in dem Bereich zu schließen?
Wir wollen die Sprachfähigkeit der Sozialen Arbeit beim Thema Digitalisierung herstellen. Wir brauchen Leute, die die unterschiedlichen Sichtweisen der Wirtschaft, der IT und der Sozialen Arbeit kennen und zusammenbringen. Damit wir nicht von anderen Branchen gesteuert werden. Ich möchte nicht, dass mir ein Informatiker sagt, was technisch geht, sondern ich möchte aus meiner Profession heraus sagen, was ich brauche, und gemeinsam Lösungen entwickeln. Uns fehlen die Leute, die das steuern können.
Digitalisierung wollen wir nicht als Selbstzweck verstanden wissen, sondern wir wollen sie da einsetzen, wo wir aus fachlicher Perspektive sehen, dass sie zu Verbesserungen führt. Wenn ich so einen Prozess gestalten soll, spielen fachliche, organisatorische, technische und ethische Aspekte mit hinein. Und ohne dem ITler zu nahe treten zu wollen, glaube ich, dass er oder sie zwar gut darin ist, die technischen Aspekte zu berücksichtigen, aber nicht so gut darin, die fachliche Perspektive des Sozialarbeiters abzubilden.
Ich erlebe immer wieder, dass technische Lösungen eingeführt werden, von denen die Mitarbeitenden sagen: „Durch die Art der Fragestellung des Onlinetools wird der Beratungskontakt in eine bestimmte Richtung gelenkt. Ich werde von der Technik gesteuert und kann gar nicht mehr meine Fachlichkeit einbringen oder das Gespräch offen führen.“ So etwas gilt es zu verhindern.
double_arrowHaben denn diese Mitarbeitenden und die Studierenden der Sozialen Arbeit folglich Lust, sich in Sachen Digitalisierung einzubringen?
Es gibt viele junge Studierende, die mit einer digitalen Affinität ihren Alltag gestalten. Sie zeigen sich offen, wollen mit digitalen Medien umgehen und fordern das von ihren Arbeitgebern ein. Aber es gibt von ihnen auch die Rückmeldung: „Ich habe mich für einen ‚Beruf mit Menschen‘ entschieden, und sehe mich nicht in der Rolle des verantwortlichen Gestalters in Sachen Informationstechnik.“ Digitalisierung wird von allen als unumkehrbare Entwicklung wahrgenommen, doch Sozialinformatik dürfte nicht in der Breite zum Lieblingsfach unserer Studierenden werden. Letztendlich gibt es wie in jeder Berufsgruppe Menschen, die flexible Strukturen und neue Gestaltungsfelder spannend finden, und Menschen, die feste Rahmenbedingungen brauchen, um gut arbeiten zu können.
Unser Studiengang besteht aus sechs Modulen, die sich im engeren Sinne mit Digitalisierung beschäftigen: Im ersten Modul geht es um die allgemeine Analyse von Trends in der Digitalisierung. Wo sind Nutzen, Gefahren, ethische Fragezeichen? Zwei weitere Module beschäftigen sich mit der digitalen Prozesstransformation und innovativen digitalen Geschäftsmodellen. Die verantwortlichen Dozenten kommen aus der Betriebswirtschaftslehre, bringen aber persönliche Erfahrungen aus dem sozialen Bereich mit. Datenschutz, IT-Recht und -Sicherheit sind weitere Themen im Studiengang, zwar nicht besonders beliebt, aber sie spielen eine zentrale Rolle in der Digitalisierung.
Ein weiteres Modul fragt nach der Umsetzung von IT-Fachsoftware und Projektierung. Es geht um die Recherche am Markt nach passenden Softwarelösungen und die IT-Infrastruktur wie Server & Co., die man dafür braucht. Im letzten Modul planen die Studierenden ein eigenes IT Projekt und setzen es um oder denken es zumindest bis zum Ende, bis zur Evaluation und zum Wirkungscontrolling durch. Hier sind die Dozent:innen Expert:innen vom Verband VEDISO oder zumindest enge Kontakte des Verbands. Die Fachleute sind eng in der Praxis involviert und kennen die Nöte der Mitgliedsorganisationen und spiegeln sie in den Studienalltag zurück. Das halte ich für ein wichtiges Element der Verzahnung zwischen Theorie und Praxis. Dadurch, dass es ein berufsintegrierender Studiengang ist, sind alle Inhalte so ausgerichtet, dass wir die Studierenden auffordern, ihre Praxisbeispiele, Fragen und ihr Alltagserleben mitzubringen und gemeinsam zu reflektieren.
Soweit wir das festgestellt haben, sind wir Pioniere in diesem Bereich, und es gab, als wir gestartet sind, kein vergleichbares Angebot. Am nächsten kommen unserem Studiengang „Digitalisierung in der Sozialen Arbeit“ noch die Studiengänge der Sozialinformatik, die noch mehr die technische Seite betrachten, während wir vorrangig die fachliche Ausgestaltung im Auge haben. Diese Schwesternstudiengänge gibt es schon länger, aber sie unterscheiden sich deutlich von unserem Master.
double_arrowDie Duale Hochschule Baden-Württemberg bietet im Herbst ein Barcamp zu diesem Thema an. Was erwarten Sie sich davon?
Ich werde das Barcamp mit moderieren und bin in die Vorbereitung mit eingebunden. Persönlich habe ich auch schon einmal an einem solchen Veranstaltungsformat teilgenommen und hoffe auf ein intensives Miteinander, eine kreative Diskussion, ein agiles Setting. Barcamps können, wenn sie gut moderiert und vorbereitet werden, kreatives Gestalten erlebbar machen. Ich bin unheimlich gespannt, ob sich das Format bei uns bewährt! Ich gehe aber sehr offen daran und habe keine feststehende Erwartungshaltung. Die Website und die Imagefilme zur Veranstaltung sind jedenfalls schon mal toll geworden!
double_arrowBeim Barcamp bringen die Teilnehmenden selbst die Diskussionsthemen mit. Welches Trendthema möchten Sie einbringen?
Ein Trendthema in der Fläche ist sicher die Onlineberatung. Sie scheint sich im großen Sinne zu etablieren. Ich persönlich finde aber die Themen Big Data und Künstliche Intelligenz besonders spannend. Wir stehen da noch ganz am Anfang, aber sie haben ein irres Potenzial, die Soziale Arbeit grundlegend zu verändern. Ich sehe bereits kleine Baustellen wie den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Bereich der Risikoeinschätzung in der Kinder- und Jugendhilfe. Da haben wir noch längst nicht alle Antworten auf alle ethischen Fragen. Das wird eine der nächsten Facetten der Digitalisierung sein, mit denen wir uns in der Sozialen Arbeit auseinandersetzen müssen.
Interview: Maja Schäfer